Sagen der mittleren Werra | weiter >>>

Vorwort

Es ist gewiss eine lohnende Aufgabe, in dem großen Sagenschatz des deutschen Volkes der Entstehung der verschiedenen Sagen nachzuspüren, die alten Überlieferungen aus vorchristlicher Zeit zu erkunden sowie die späteren Einflüsse geschichtlicher Ereignisse nachzuweisen. Und wie förderlich für die Aufgabe der Kulturgeschichte ist es nicht, die der Sage zugrunde liegende sittliche Anschauung zu erörtern, zu erfahren, wie bald der Wunsch nach unverhofftem Glück durch Hebung eines Schatzes, bald die scheue Furcht vor unheimlichen Mächten oder das Vertrauen auf hilfreiche Beschützer, bald aber, und das wohl am meisten, der ehrwürdige Glaube an eine allwaltende, sühnende Gerechtigkeit in dieser Poesie des Volkes zum Ausdruck kommt. Nach diesen und ähnlichen Gesichtspunkten die mannigfaltigen Sagen zu gruppieren, die örtlichen Ab- und Umänderungen derselben zu bezeichnen und zu schildern, ist eine höchst verdienstliche Arbeit. Bevor dieselbe aber in vollständiger und gründlicher Weise ausgeführt werden kann, müssen die sorgfältigsten Sammlungen in den einzelnen Gegenden des großen Vaterlandes angestellt werden.

Eine solche Sammlung von Sagen aus einem bestimmt abgegrenzten Teil unseres Vaterlandes, dem so sagenreichen Werratal von Meiningen bis Vacha nebst den angrenzenden Terrassen des Thüringer Waldes und der Rhön, tritt nun hiermit in die Öffentlichkeit.

Der Schwierigkeiten und Mühen, welche mit einem derartigen Werk in einer Zeit verbunden sind, die das Licht der modernen Kultur in alle Winkel der Erde trägt, dabei aber manch gutes Stück der alten Kultur wie den Gegenstand dieses Buches in die Rumpelkammer wirft, war sich der Verfasser wohl bewusst. Aber er darf in Wahrheit behaupten, weder Mühe noch Opfer gescheut zu haben, um zu dem einmal gesteckten Ziel zu gelangen.

Sein mannigfach bewegter Lebensgang, der ihn mit den verschiedensten Ständen in Berührung brachte, hat ihn wohl mehr als manch anderen befähigt, sich dem schlichten Mann des Volkes zu nähern und denselben zutraulich und mitteilsam zu machen. Denn es ist nicht leicht, was Volkssagen betrifft, das Vertrauen der Landbewohner zu gewinnen. Sie sind misstrauisch und fürchten von dem sogenannten Gebildeten »zum Besten gehabt« zu werden.

Und wenn auch ein guter Teil derselben noch fest an den Inhalt der Sagen glaubt, so ist man doch meist ängstlich bemüht, den Schein des Glaubens zu vermeiden, weil man fürchtet, durch den Sagensammler bloßgestellt oder wohl gar auf irgendeine Weise verdächtigt zu werden.

Ehe der Verfasser seine bezüglichen Wanderungen antrat, suchte er sich womöglich genaue Kenntnis des zu sondierenden Terrains zu verschaffen und über etwa vorhandene Burgruinen, Denkmäler, alte Bäume, Seen und Quellen und dergleichen eingehende Kunde zu erwerben. Hauptsächlich forschte er nach solchen Leuten, Greisen, Hirten, Waldhütern, Kräuterweibern, welche ihm die gewünschten Mitteilungen zu machen imstande schienen.

Sodann näherte er sich denselben in ihre Sphäre niedersteigend vertrauensvoll, suchte sie bei ihrer Berufsarbeit im Feld, im Wald oder auch in der Dorfschenke auf, strebte durch Mitteilung von bereits Bekanntem und Fragen, die sich auf Realitäten bezogen, Anknüpfungspunkte und dadurch zugleich das Interesse der Erzähler zu gewinnen und hatte in den meisten Fällen die Genugtuung, alles, was ihnen zu Gebote stand, rückhaltlos gegeben zu sehen.

War zum Beispiel in der Schenke irgendeiner erst so weit gebracht, dass er erzählte, so wirkte dies in der Regel gleichsam wie ein Zauber auf alle Anwesenden. Schlafende Erinnerungen wurden bei dem und jenem geweckt. Dieser erzählte das, der andere jenes, was er von Eltern und Großeltern gehört. Die eifrigsten Spieler legten oft ihre Karten nieder und sammelten sich als Erzähler oder Zuhörer um den Verfasser, der dann freilich auch manches Unbrauchbare geduldig mit in Kauf nehmen musste. Ehe er jedoch eine der gewonnenen Sagen in seine Sammlung aufnahm, hat er sich durch strenge Prüfung zu überzeugen gesucht, ob die Sage dort im Volk auch wirklich lebe oder gelebt habe, indem er dieselbe noch anderen an Ort und Stelle wohnenden Leuten andeutete und von ihnen nochmals erzählen ließ.

Auf diese Weise entstand diese Sagensammlung. Sie ist nicht die Erste auf diesem Gebiet. Namentlich ging ihr Bechsteins verdienstvolles Werk Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringer Waldes voraus. Nichtsdestoweniger glaubt der Verfasser, dass seine anspruchslose Sammlung auch neben erwähntem Werk seines verstorbenen Freundes einige Berechtigung habe. Indem er sich auf ein engeres Gebiet beschränkte, war ihm eine durchgängig persönliche Durchforschung der im Volk lebenden Sagen möglich. Diese setzte ihn in den Stand, einesteils eine bedeutende Anzahl neuer Sagen zu bringen, anderenteils schon durch Bechstein mitgeteilte wieder unmittelbar aus dem Munde des Volkes heraus zu überliefern, wobei nicht selten die Entdeckung mannigfaltiger Abweichungen von der Bechstein’schen Darstellung die Mühe des Sammlers belohnte.

Die Ordnung des reichhaltigen Sagenstoffes geschah nach dem rein lokalen und geografischen Gesichtspunkt. In dieser Hinsicht stimmt der Verfasser mit C. Haupt (Sagenbuch der Lausitz) vollkommen überein, wenn dieser meint: »Jede Sage ist mehr oder weniger lokal gebunden, während Mythos und Märchen heimatlos wie das Volkslied über die Lande vagabundieren. Die Sage wandert wohl auch und manchmal recht wunderbar weit, aber immer doch hat sie die Tendenz, ihr Dasein an einen Ort anzuknüpfen und Heimatrecht zu erwerben. Sagen sind wie die Vögel, die man nicht eher zu Schuss bekommt, als bis sie sich irgendwo niedergelassen haben.«

Die Sagen einer Gegend erscheinen wie die Flora derselben, sie gehören zu ihr wie die Blumen, welche eine Burg umblühen, und aus dem Interesse, welches eine Gegend dem Einheimischen oder Fremden bietet, entspringt das für ihre Sagen.

So verfolgte der Verfasser neben dem höheren Zweck, einen kleinen Stein zu einem planmäßig gefügten deutschen Sagengebäude zu liefern, auch den besonderen, nahen und fernen Freunden der Heimat dieser Sagen ein Buch in die Hand zu geben, welches den Reiz der von ihnen besuchten Punkte erhöht und ihnen zugleich eine angenehme Unterhaltung gewährt.

Möge seine Mühe nicht vergebens gewesen sein und der Leser sich ähnlichen Genusses erfreuen, wie ihn der Verfasser beim Aussuchen der hier getreu wiedergegebenen Sagen gehabt hat.

Salzungen, im Oktober 1864

C. L. Mucke