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Vorwort zum 2. Theil
Unbefangen und von der reinsten Liebe zu der Sache beseelt, der das Unternehmen meines Thüringischen Sagenschahes gilt, gab ich den ersten Band, deshalb durfte ich denselben auch bloß dichterisch bevorworten. Bei diesem zweiten scheint es mir wohlgethan, mich näher über Plan und Zweck des Werks auszusprechen, hauptsächlich für die, welche theils aus Antheil, theils aus kritischem Drang sich für berechtigt halten, solche Erklärungen von dem Herausgeber zu fordern. Die Beurtheilungen in öffentlichen Blättern über den ersten Band sind, so viel derselben mir zu Gesicht gekommen, der Mehrzahl nach günstig ausgefallen, nächst ihnen habe ich auch noch andere Beweise, daß mein Unternehmen Anklang gefunden hat. Hin und her äußert wohl ein Beurtheiler, daß die Erzählung allzu kurz, allzu schmucklos sei, dieß habe ich vorausgese hen, habe Th. 1. S. 17. bereits darauf hingedeutet, und muß nochmals bemerken, daß ich nur die einfachen Sagen gebe, die rohen Stoffe, die ich durch Zuthaten eigner Phantasie nicht auf und auszuschmücken gesonnen bin.
Eine Kritik in den Literarischen Blättern, welche als Beilage des Berliner Gesellschafters erscheinen, in Nr. 28, 1835, Gzl. unterzeichnet, giebt mir Veranlassung, mich über den mir vor Augen schwebenden Zweck bei Herausgabe dieses Werks sowohl, als auch über jene Kritik selbst auszusprechen, nicht etwa, um eine Antikritik zu schreiben, sondern um an dieselbe manches anzuknüpfen, was ich dem Leser zu sagen habe Mein Beurtheiler, der Namensziffer nach zu vermuthen, Herr Genkel, ein junger Literat in Berlin, übrigens ein thüringer Landsmann, sagt: „Den Sagenschat des schönen Landes (Thüringen) auf eine würdige Weise auszubeuten, hätte es eines andern Mannes bedurft, als Bechstein ist. Ich will nicht läugnen, daß der Herausgeber Thüringen kennt und liebt - das sieht man seinem Buche an - aber wohl will es mir nach der in diesem (dem 1sten) Bande gegebenen Probe bedenklich scheinen, ob er Kraft und Geschicklichkeit genug habe, seiner Aufgabe so sich zu entledigen, daß seine Sammlung wirklich dichterischen oder geschichtlichen Werth habe.„ Nun möchte ich mir die sehr bescheidene Frage erlauben, ob Hr. G. oder sonst Jemand im ersten Theil des Th. S. S. in Darstellung oder Behandlung der dort aufgeführten geschichtlichen und örtlichen Sagen etwas, das man unwürdige Weise nennen könnte, gefunden hat? Ich aber könnte unwürdig die Weise nennen, mit der Hr. G. mir die Befähigung zu meinem Unternehmen abspricht. Kennt er mich, mein Wollen und Wirken so genau? Der erste Band hat ihm mißfallen, was ich freilich bedauern muß, die von mir gewählte Form sagt ihm nicht zu, er nahm das Buch mit andern Exwartungen zur Hand, er fand nicht, was er suchte, folglich bin ich nicht befähigt, den Sagenschatz des Thüringer Landes zu heben!
Herr G. sagt weiter: „ich kann mir dabei nur zwei Gesichtspunkte denken: entweder giebt uns der Sammler urkundlich eine Sagengeschichte - auch der Mund des Volkes ist eine zur Sage gehörige Urkunde - dann hätte auch die Literatur durchaus berücksichtigt werden müssen, und die Weise der Erzählung etwa jene unserer alten Volksbücher sein sollen, oder der Sammler hat einen rein dichterischen Zweck, dann hätte Rundung in die einzelnen Sagen kommen, und der Styl der eines Tieck (in seinen Mährchen) oder eines Musäus sein müssen.“
Wenn ich nun Hrn. G. zugestehe, daß ich aus dem ersten dieser Gesichtspunkte mein Werk bearbeitet und betrachtet wünsche, so habe ich auf seine, hier allerdings achtungswerthe Meinung folgendes zu erwiedern: Ich wollte und will in diesem S. S. ein Buch für das Volk geben, darum habe ich gar wohl erwogen, daß ich nicht mit Literaturnotizen, Anmerkungen und Citaten das Werk anfüllen dürfe, deßhalb glaube Niemand, daß die Literatur der Sagen mir unwichtig sei; ich sammle und zeichne sorgfältig alles auf, was dahin gehört, um es zu seiner Zeit zu benuken. Spricht mein Werk dem Publikum an, und komme ich damit zu einem erwünschten Ende, dann will ich in einem Schlußband gleichsam den Schlüssel zum Ganzen liefern, will redlich alle Quellen angeben, die Sagen vergleichen und nachweisen, wo sich die gleichen und ähnlichen, nicht nur in Thüringen, sondern in ganz Deutschland und selbst außer Deutschland wiederfinden. Sehr recht hat Hr. G., daß der Mund des Volks auch eine Urkunde sei, ja er ist die Ur - Kunde aller Sage. Ueber die von mir beliebte Art der Darstellung kann ich mir keine Vorschriften machen lassen; ich hoffe, sie wird genügen, wenn sie einfach und verständlich ist; ich schätze die alten Volksbücher überaus hoch, und besitze deren mehr, als mancher Kritiker vielleicht in seinem Leben gesehen hat, aber ich bin nicht geneigt, sie immer nachzuahmen.
Dasselbe gilt auch in Beziehung auf die Darstellungsweise von Tieck und Musäus. Ich gehöre nicht zu denen, die in ihrer Dünkelhaftigkeit anerkannten großen und liebenswürdigen Männern den wohlverdienten Lorbeer vom Haupt zu reißen streben, um ihre eitle Frazze davon überschatten zu lassen, ich ehre in Tiek den meisterhaften Dichter, sehe aber die Nothwendigkeit nicht ein, warum ich, selbst wenn ich einen rein dichterischen Zweck beabsichtigte, seinen Mährchenton, wie traulich und lieblich der immer sei, nachahmen sollte; und ich schätze den sel. Musäus um seiner Verdienste und seines Characters willen; seine Weise jedoch, Mährchen zu erzählen, kann bei meinem Unternehmen nie die meine werden. Er nahm die einfachen Stoffe und schmückte sie aus nach Willkühr und Laune, umkleidete sie mit dem romantischen Zauber der Phantasie und wußte sie durch herzige Gemüthlichkeit für Viele anziehend zu machen. Weit anders und ernster ist mein Zweck.
Wenn Hr. G. mir Muster aufstellen wollte, warum nannte er mir nicht die Brüder Grimm? Diese allein erkenne ich auf dem Felde, das ich zu bebauen begonnen, als solche an, diese haben in ihren deutschen Sagen den Weg vorgezeichnet, den ich zu wandeln gesonnen bin, das haben auch andere Beurtheiler herausgefühlt und anerkannt, und wenn ich selbst weit von der Anmaßung entfernt bin, zu glauben, ich könne in dem Sagengebiet auch nur Aehnliches leisten, wie jene hochverdienten Männer, so erhebt und tröstet mich schon das Bewußtseyn, Steine zum Bau getragen zu haben, und das bescheidene Verdienst eines Handlangers gesteht mir ja endlich Hr. G. selbst zu, indem er am Schluß seiner Beurtheilung ungemein gütig sagt: „Wird nun B. auch kein Meisterwerk liefern, so kann er doch einem Geschickteren vorarbeiten und wirken, daß so manche poetische Blume nicht ungesehen und ungenossen verwelkt.“ Damit bescheide ich mich und bin zufrieden, um so mehr, da ich ja nichts Eignes, sondern nur Gesammeltes gebe.
Weiter sagt Hr. G.: „Auch hätte der Verfasser den originellen Gedanken haben können, die Sagen jedesmal in dem betreffenden Volksdialekt zu schreiben. In diesen drei Fällen konnte etwas Gutes, Bleibendes geliefert werden.“ Diesen originellen Gedanken habe ich nicht gehabt. Es ist überaus schwer, in Volks - Dialekten zu schreiben. In meiner Gegend hat fast jeder Ort einen andern, und es fragt sich, ob ich mir damit den Dank aller Leser verdient hätte. Ob mein Unternehmen sich als etwas Gutes und Bleibendes, oder als etwas Schlechtes, Bergängliches ausweißt, darüber wird habent sua fata libelli das Schicksal und des Werkes Werth entscheiden, und nicht die Stimme eines einzelnen Beurtheilers, der unwillig darüber ist, daß der Herausgeber nicht seine Ansichten zur Richtschnur nahm.
Ferner sagt Hr. G.: „Für Bechsteins Leser mag das Buch angenehm sein und lesbar, denn Alle wissen nicht Alles, und Ref. gesteht, auch einiges gefunden zu haben, was ihm noch unbekannt war. “ Und zuleht: „Auch wird, wie schon bemerkt, das Buch dem Publikum Bechsteins gefallen, wenn auch die Kritik hier einen andern Maßstab zur Hand nehmen muß.“ Ich gestehe, daß ich nicht recht weiß, was Hr. G. mit der Hindeutung auf mein Publikum sagen will. Ein Publikum wird mir zugestanden, aber was für eins? Die Aeußerung sieht aus, wie eine versteckte Perfidie. Ich mag in meinen verschiedenartigen dichterischen und schriftstellerischen Bestrebungen vielfach geirrt und gefehlt haben, dennoch bin ich mir mit Stolz bewußt, immer nach dem Beifall der Gebildeten gestrebt, diesen auch oft errungen zu haben; ich habe meine Feder nie der Unsittlichkeit, nie dem Tagsgeklatsch, nie der feilen Kritik geweiht, und nie gesucht, den Lesepöbel zu amüssiren. Sollte mein Publikum in seiner Intelligenz tiefer stehen, als das, welches den „Gesellschafter“ ließt, dessen Mitarbeiter Hr. G. ist? Doch darüber kein Wort weiter, ich bin von den Herren Berliner Kritikern im Gesellschafter, wie in den Brockhausischen Blättern der bittern Kränkungen schon zu sehr gewohnt, als daß sie mich sonderlich verlehen könnten, und weiß gar wohl den Maßstab zu würdigen, den ihre Kritik bei meinen Leistungen zur Hand nimmt. Wenn Hr. G. sich die Mühe nehmen will, diesen zweiten Band zu durchblättern, so wird er wahrscheinlich darin nicht nur einiges, sondern wohl vieles finden, was ihm noch unbekannt war.
Mit Absicht stellte ich im ersten Band die Wartburg, und die vielen auf sie bezüglichen allbekannten Geschichtssagen voran.
Auf das, was der Beurtheiler ferner sagt: „B. scheint vor dem Beginn des Werkes mit sich nicht ins Klare gekommen zu sein. Die Einleitung hätte reichhaltiger sein sollen; es waren darin z. B. folgende Fragen zu erörtern, welche sind die Grundzüge der thüringer Sagen? welche Sagen des übrigen Deutschlands wiederholen sich in Thüringen? wie ist das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden? denn nicht jede Gespenstergeschichte ist eine Sage, und B. scheint sich keine Grenzen gezogen zu haben. Wie viele Bände mag das Werk haben u. s. w. ?“ bleibt mir noch zu erwiedern, daß ich über ein mit Liebe begonnenes Unternehmen gar wohl mit mir ins Klare gekommen bin, wenn es auch Hrn. G. nicht so scheint; daß ich alles, was ich geben, und wie ich es geben will, des Gebietes, wie des Werkes Umfang reiflich überlegt und überdacht habe, und darüber Rechenschaft abzulegen, stets bereit bin, ohne gerade an die Nothwendigkeit zu glauben, die von Hr. G. aufgestellten Fragen erörtern zu müssen. Vielleicht findet Hr. G. die Einleitung dieses zweiten Bandes nach seinem Wunsch reichhaltiger, da ich seine Beurtheilung in dieselbe verwebt habe. Die Grundzüge der Thüringer Sagen sind keine andern, als die der übrigen deutschen Sagen auch, und ich hatte eben nicht Lust, die holde farbenschillernde Libelle zu zergliedern. Welche deutsche Sagen sich in Thüringen wiederholen, soll später von mir nachgewiesen werden, es sind ihrer unzählige; und was die Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen betrifft, so weiß ich, so gut wie Hr. G. und der Leser, daß nicht jede Gespenstergeschichte eine Sage ist, aber mit Dank werde ich es erkennen, wenn Hr. G. die Geneigtheit haben will, mir bei örtlichen Sagen die Grenzlinie genau zu bestimmen, wo sich Sage und Gespenstergeschichte scheiden. Ich habe mir allerdings eine Grenze gezogen, behalte mir aber die Freiheit vor, jezuweilen einen Schritt darüber hinauszuthun auf eine Nachbarwiese, in einen fremden Berggarten, ohne bei meiner harmlosen Wanderung die Pfändung britischer Flurschüßen zu fürchten. Wie viele Bände das Werk umfassen soll, kann ich ganz genau nicht bestimmen, die Stofffülle ist groß, doch giebt es auch manches sagenarme Gebiet, und es ist oft recht schwer, etwas zu erfahren. Bleibt mir Muße und Gesundheit, und wird mir die Lust an diesem Werk nicht verkümmert, so denke ich, es in 6 Bänden etwa zu vollenden, mit dem Vorbehalt, Nachträge, die sich immer finden, in einen Schlußband zu bringen, damit meine witzigen Herren Berliner sagen können, ich habe eine böse Sieben zur Welt gebracht.
Noch finden sich in der kritischen Besprechung des Hrn. G. einige Hinweisungen auf seine Heimath, die Grafschaft Hohnstein, für welche Notizen ich ihm danke, obschon sie mir nicht unbekannt sind. Meine, Gott sei Dank! günstige Stellung macht mir die besten Schriftquellen zugänglich, ich selbst suche meine eignen Sammlungen von dergleichen zu vermehren, so viel ich kann; ich wohne in Thüringen und reise immer zuvor an die Orte, deren Sagen ich sammle, um mehr Mündliches zu erfahren; auch in die Grafschaft Hohnstein werde ich reisen, um manche ihrer schönen Sagen aus dem Munde des Volks zu hören; wenn es mir nun dennoch, troß meiner Liebe zur Sache, trok den reichen, mir zu Gebote stehenden literarischen Hülfsmitteln, trotz meiner Localkenntniß des Landes nicht gelangen sollte, etwas zu liefern, das billigen Anforderungen genügen kann, so wünsche ich selbst, daß sich recht bald der bessere Mann finde, Thüringens Sagenschätze auszubeuten, und freudig werde ich ihn willkommen heißen.
Der deutsche Sagengarten ist ein großes Labyrinth. Tausendfach sind seine Windungen, Gänge und Verschlingungen; zwischen Laubengängen und Alleen, an Blumenwegen und kühlen Grotten stehen Marmorbilder, die sich täuschend ähnlich sehen, so daß bisweilen der Wandrer meint, er sei wieder an bekannten Stellen, und sich dann doch getäuscht sieht, und wahrnimmt, wie hier ein Zug, dort ein Faltenwurf anders angelegt sei, oder hier ein Strauch, dessen Blätter einem andern ganz gleich, goldne Blüthen trage, während jener mit rothen oder blauen prangt. So wunderbar ists um das Wesen der Sagen beschaffen, die sich häufig da und dort wiederholen, es sind dieselben und sind doch nicht dieselben, sie treten überraschend an das Licht, wie seltne Blumen oft an Orten, wo man sie nicht suchte, und beglücken ihren Finder mit der Freude des Botanikers, dem auf einsamen Bergpfade mittenin Thüringen eine Alpenpflanze entgegenblüht, wovon ich manches Beispiel wüßte.
Wie häufig kommen nicht vor die Sagen von weißen Frauen und Jungfrauen; scheinbar gemischt, und doch in der Tradition streng geschieden; weiße Frauen mehr in Schlössern, die noch erhalten sind, vorahnende, ereignißkündende Erscheiungen; Jungfrauen mehr auf öden Burgplätzen, an Fels und Quell, die der Erlösung harren. Die Attribute beider ähneln sich: altmodische Tracht, Schleier, Schlüsselbund, oft ein begleitender Hund u. s. f. Von andern sich überall wieder neu gebärenden Sagen will ich nur flüchtig anführen, weil ich Ausführung an einen andern Ort verspare:
Sagen von Schätzen mit ihrer Bedingniß des Schweigens, ihren Erscheinungen, ihren unbesonnen Redenden und Schreienden, die den Schatz verschwinden machen. Deßgleichen von versunkenen Bergschätzen, die an Glückstagen aus der Tiefe heraufsteigen und dem sichtbar werden, der die Wunderblume fand, durch die er den Schatz erblicken, den Schlüssel, mit dessen Hülfe er eingehen mag in die verschlossenen Bergespforten. An diese knüpft sich gemeiniglich die Erscheinung eines Zwerges oder Berggeistes.
Sagen von Wasserjungfrauen, die zum Tanze kommen, und an der Rückkehr zur bestimmten Zeit verhindert werden, sie bleiben aus und leiden ihre Strafe. Diese bewohnen Quellen und Seen, ganz anders wieder sind die Sagen von den Niren, die in Flüssen und Strömen wohnen, und davon es so unzählig viele giebt.
Sagen von versunkenen Glocken, die von Thieren ausgewühlt werden, kommen häufig an vielen Orten vor.
Wie zahlreich sind die Klostersagen, wie häufig die Geschichten von gefundenen Leinknotten, davon einige wenige aufgehobene zu Gold geworden, was sich schon höher gesteigert bei grünen Zweigen, die aufspielende Musikanten zur Belohnung erhalten, wiederfindet, wo die Sage andeuten zu wollen scheint, daß dem Glücklichen alles zu Glück ausschlägt, und er am geringfügigsten noch gewinnt, wie die Biene aus der kleinsten Blume Honig zu saugen weiß, und daß der Zufriedene hauptsächlich der Glücklichste ist u. s. w. u. s. w.
Mit Absicht führe ich auch im Werk jene Traditionen von wirklichen überreichen Erzgänzunggen in den thüringischen Bergen an, die man kaum Sagen nennen kann, sie stehen in allzunaher Beziehung zu den vielfach begegnenden Sagen von den räthselhaften Venetianern, wie zu denen, die vom ehemaligen Bergbauwesen her noch in des Volkes Erinnerung fortblühen. Bergmannssagen, Hirtenssagen, Jägersagen leben ewig im Volk, und es bedarf oft einer erstaunlich kurzen Zeit, daß wirkliche Ereignisse von der dem Volk unbewußt innewohnenden Poesie sagenhaft umkleidet und so fortgepflanzt werden. Ganz merkwürdig ist's, wie oft örtliche Sagen sich beinah wörtlich in weit von einander entlegenen Dörfern wiederfinden, wie sie oft ganz in die neue Zeit hereinragen, und wie mancher Sagenstoff aus der Urzeit sich erfrischt und verjüngt, alte Namen auf jüngere überträgt, und wie dann der alte, halbverdorrte Stamm fortknospet und mailich ausgrünt.
Den Sagen aus Thüringens Frühzeit in diesem Bande, die ich nicht übergehen wollte, doch so kurz als möglich anzog, sollen im nächstfolgenden Band diejenigen aus dem Mittelalter folgen, welche eine allgemeine Färbung haben, und weder an Ort, noch Kreis sich bannen und binden lassen. Dahin rechne ich, was aus der Geschichte der spätern Herzoge noch sagenhaft hereinklingt, was von Geiseln des Landes, als Hunneneinfällen, Kriegen, Hungersnöthen, Pesten und Sündfluthen als Sage haften blieb, eben so was von räthselhaften Zeitkrankheiten, als Geiselfahrten, Veitstänzen, Kinderkreuzzügen und Judenverfolgungen sich als allgemeinthüringische Sage gestaltete; dann werde ich wieder zum mehrörtlichen übergehen, den Sagenkreis der drei Gleichen bearbeiten, und mit dem vom Schneekopf und dem Thüringischen Henneberg den dritten Band schließen. So hoffe ich rüstig in meinem Schachtfortzubauen, und was ist's denn für ein Unglück, wenn ich auch einmal statt güldischen Erzes auf taubes Gestein stoße und es zu Tage fördere, oder wenn ich auf eine unergiebige Lagerstätte schürfe? Manche Nachweisung irgend eines verklungenen geschichtlichen Ereignisses, manche alte Erklärung eines oder des andern Ortsnamens, Hindeutungen auf Spott und Nachbarneckererei u. dergl. mehr gehören in dieses Gebiet, wenn es auch nicht im strengen Sinn Sagen sind.
Und damit, lieber Leser, für dießmal Gott befohlen.
Meiningen, im April 1836 Ludwig Bechstein
Quelle: Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung