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Sagenkreis von Reinhardsbrunn - Einleitung
Umfange mich, heiterer Thalfrieden, paradiesisches Gefilde, das wie eine blumengeschmückte Eremitenzelle im Schoos des Thüringerwaldes ruht! Du empfängst mit den Armen der Liebe und der Ruhe den Wanderer, der von den Bergen zu dir niedersteigt, und bietest ihm Freuden in Fülle dar.
Erquickung dem Ermatteten, Augenweide dem Schaulustigen, heitere Gesellschaft dem Frohen und die Melancholie düsterer Schattengänge dem Traurigen und Unglücklichen. Reste der Vorzeit zeigen die alten Mauern, die einst dein klösterliches Haus umgaben, und wie versteinerte Sagen stehen ernst und stumm die halbverwitterten Monumente alter Landesgrafen unter der Kirche schützendem Dach. Die uralten Linden um den großen, steinernen „Mönchstisch“ rauschen und plaudern, als erzählten sie sich von den längstvergangenen Zeiten; wie herrlich ruht sich's unter ihrem Schatten! Hier will auch ich einsam verweilen und mich ganz in die Erinnerung deiner Vorzeit versenken. Ich habe im Frühstrahl auf der Wartburg gestanden und dem Wiegenlied der Thüringischen Landgrafengeschichte gelauscht und die holden kindlichen Mährchen mir erzählen lassen, die aus dem Jugendmorgen jener Zeit erklingen; hier will ich am stillen Abend sitzen, hier in Reinhardsbrunn läutete man denen zu Grabe, die sich dort im Glanze sonnten; von dem hohen Bergschloß mußten alle herab und die meisten fanden hier in heiligen Mauern ihre letzte Ruhestätte, bis die Sturmschwinge der Zeit selbst ihren Grabesstaub und ihrer Leiber Asche verwehte und keine Spur von ihnen übrig ließ. Wo sind deine Mauern, du stolze Bergveste Schauenburg? Wo sind deine hochragenden Thürme? Du standest stolz und hoch, eine Landeswarte, ein Landeshort, aber auch du bist gefallen und der Wald überwuchs deinen Wall, hohes Gras wuchert auf den Trümmern deiner hohen Größe.
Kaum daß noch moosüberwachsene, sparsame Mauerreste die Stätte zeigen, wo die stattliche Burg einst stand, die weit ins Land schaute, weit vom Lande zu schauen war. Von Schätzen, in deinen Tiefen verwahrt, gehen manche Sagen und die Habsucht durchwühlte auch deine Fundamente, aber die Geister, welche die Schätze der Burg bewachen, gaben bis jetzt ihren Hort noch nicht frei. Dich baute, auf dir wohnte der erste Thüringische Landgraf, doch wie du dich früh erhoben, erlebtest du frühen Fall. Von deiner mütterlichen Erde sandtest du nach dem hohen Wartberg, darauf hob sich stolz und kühn die berühmte Tochterveste, die noch immer steht und die noch lange bestehen möge, des Landes Schmuck und Zier. Still spiegelt sich des Abends Goldgewölk in den silberklaren Weihern von Reinhardsbrunn, die Blumen nicken träumend ein, die Vögel schlummern, leise rauscht der Wald, die Kaskade braußt, die Nacht bricht allmählig ein. Wo springt nun der Brunnen, in dessen Nähe einst die wunderbaren Flämmchen erschienen, welche die Gründung eines Klosters in diesen Thalgründen veranlaßten? Wo wohnte Reinhard, der arme Töpfer, der dem Kloster seinen Namen gab? Hier steht mir niemand Rede. Alles schläft. Komm du wundersame Pilgerin, vaterländische Sage, komm du zu mir an den lindenumrauschten einsamen Mönchstisch und flüstere mir von Reinhardsbrunn die alten verklungenen Geschichten zu. Niemand möge und wird zürnen, wenn das ihr Abgelauschte mehr der Geschichte selbst, als der eigentlichen Volkssage angehört, es gehört zum Ganzen.
Quelle: Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung