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Sagenkreis von Eisenach und der Wartburg - Einleitung
An den äußersten nördlichen Grenzen des Thüringer Waldes ruht die altergraue Wartburg, wie ein Markstein, wie eine ewige Denksäule, daran ein Jahrhundert nach dem andern schmückende Kränze aufgehangen. Ernst und still und ehrwürdig steht die Königin der thüringischen Burgen auf ihrem hohen Steinthron, und blickt herab auf die regsame und geräuschvolle Stadt zu ihren Füßen, die mit ihr alt geworden, aber öfter wie sie, die Gewänder getauscht; in der sie ein Menschenalter nach dem andern aufblühen und abwelken sieht. ein heiliges Memnonbild im Strahl der Frühe erglühend, ragt sie empor, und es ist, als klänge aus ihr ein wunderbarer Schall, die Harfe der Erinnerung tönt von den frühen Zeiten. Rings umgiebt die Greisin jugendliches, blühendes Leben, eine reiche und herrliche Natur umprangt mit zauberischem Reiz das alte Schloß. Weit in die Ferne streifen die Blicke von jener Höhe, weit über das Thüringerland, aber sie kehren immer wieder zurück in die freundliche Nähe dieser dunkelgrünen Waldungen, dieser gesegneten Fluren, und durchirren die tiefen Thalgründe, weilen auf Felskolossen, und umfangen freudig das blühende Leben der Gegenwart.
Aus allen deutschen Gauen kommen von den ersten Frühlingstagen bis zu denen des Spätherbstes Jahraus Jahrein zahllose Waller gezogen, und grüßen fröhlichen Muthes die berühmte Feste, die deutsche Burg, die Burg Deutschlands. Zwar haben dieses Loretto die Engel nicht auf den Berg getragen, und kein Gnadenbild verheißt hier Ablaß, die Pilger müssen selbst sehen , wie sie mit ihren Sünden zurecht kommen, aber dennoch ists, als durchwche eine unsichtbare Flamme der Läuterung den alten Bau, und gar herrlich bewährt sich auf Wartburg das alte: Introite, et heic Dii sunt! Ja, wie ein ernstes gottgeweihtes Tempelhaus ist schon Manchem die Wartburg erschienen, ein Allerheiligstes mitten in dem großen Naturtempel, den sich die schaffende Almachthand der ewigen Weisheit und Güte hier selbst erbaut.
Hier, wo durch drei und ein halbes Jahrhundert die mächtigen Gebieter des Thüringerlandes wohnten und herrschten ; wo herrliche deutsche Frauen, aus kaiserlichem und königlichem Stamm , lebten, liebten und litten; wo die größten Dichter der deutsschen Vorzeit sich zum Liederwettkampf zusammenfanden; hier endlich, wo der Eine gotterfüllte, gottbegeisterte, der Mann der Kraft, des Muthes und des Sieges weilte, waltete und segensreich wirkte; hier ist Tag und Licht genug, um die Hand des Herrn zu erkennen, die auch in diesen Räumen kein Mene Tekel , sondern das flammende Amen der Bestätigung schrieb, daß unser Gott eine feste Burg, und daß die Feinde, die Verfolger, die Unterdrücker der Wahrheit, des Lichts und der geistigen, sittlichen Freiheit, das Wort sollen lassen stahn, das ihre Ohnmacht weder hindern, noch fesseln, noch vernichten kann.
Wie eine in Stein gegrabene Chronik, ein altes Buch voll ehrwürdigen Bilderschmucks liegt die Wartburg auf dem Bergaltar, um dessen Fuß sich wie eine mit buntem Teppich bedeckte Schwelle, das heitre Eisenach zieht. Vieles ist in dem Buche selbst zu lesen, Vieles ist als deutsame Arabeske dem Teppich eingewebt, noch Andres durchrauscht wie Quellengeriesel die grüne Waldung, und von Fels und Höhle flüstern Mährchenstimmen dem Wandrer zu.
Zieht hinaus, ihr Kinder, wie es zu Eisenach üblich ist von Alters her , zum fröhlichen Sommergewinnen!„ Tragt den Popanz Winter, den kalten Ernst , das steife , kleinliche und peinliche Vorurtheil, den Tod des frischkräftigen Lebens hinaus, und gewinnt euch den Lenz der Poesie , den grünenden Wunderstab, die Sommersonne der blühenden Romantik. Zieht auch ihr hinaus, vaterländische Sagen, und gewinnt euch aufs Neue die Herzen freundlicher Leser und Hörer, und ihre warme Liebe!
Quelle: Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung