Sagen aus Thüringen | weiter >>>
Sagen aus Thüringen - Vorrede
Eine Sammlung thüringischer Sagen, Sitten und Gebräuche bedarf wohl kaum einer Entschuldigung oder Rechtfertigung, da diesen alten Volksüberlieferungen, deren Ansammlung die neuere Zeit fast überall besondern Fleiß und Eifer zugewendet hat, gerade in Thüringen theils nur geringe, theils nicht die rechte und für weitere Zwecke brauchbare Beachtung und Aufzeichnung zu Theil geworden ist. Denn abgesehen von einer kürzlich erschienenen Sammlung der „Sitten und Gebräuche bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen von Franz Schmidt (Weimar 1863)“, so ist des Volkes alter Brauch und Glaube, dessen Umfang so groß und weitverzweigt, dessen Wurzeln so tief in die Vorzeit zurückgehen, noch gar nicht gesammelt und zusammengestellt, wie dringend auch die Zeit und ihre Verhältniße mahnen, die noch übrige Aehrenlese auf diesem Gebiete der deutschen Mythologie, Culturgeschichte und Heimathskunde nicht länger aufzuschieben. Von jenen alten Volkssitten und Festen und dem daran haftenden Brauch und Glauben ist schon so vieles durch die unaufhaltsamen Fortschritte und Bestrebungen der Zeit unserer Kenntniß für immer entrückt und entzogen und jede noch vorhandene Spur wird bald völlig vertilgt sein. Die Wichtigkeit dieser Ueberreste und Bruchstücke aus der Geschichte des Glaubens und Denkens unserer Urväter, freilich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt, Reinheit und Unmittelbarkeit erhalten, sondern theils abgeändert und umgebildet, theils aus ihrem Zusammenhange gerißen und zerbröckelt unter den Einflüßen der Neuzeit und ihrer Bildung, aber auch selbst in dieser verjüngten, getrübten, trümmerhaften Gestalt, in ihrer Abgerißenheit und Zerbröckelung noch auffällig genug, um von schärfer blickenden Augen erkannt und in ihrer wahren Bedeutung erfaßt zu werden den Werth und die Bedeutung dieser Urkunden und Zeugniße für andere und höhere Zwecke der Wissenschaft hier ausführlich darzulegen, ist durchaus unnöthig und überflüßig. Dieser Nachweis liegt in 3. Grimm's deutscher Mythologie Jedermann vor Augen. Thüringische Sagen dagegen sind schon zweimal von L. Bechstein gesammelt und herausgegeben worden, zuerst im „Sagenschatz des Thüringerlandes“ (Hildburghausen 1835 ff. 4 Bde.) und später nochmals im „Thüringer Sagenbuch„ (Wien und Leipzig 1858. 2 Bde.). Wer mit diesen Publicationen die gegenwärtige Sammlung näher vergleicht, dem wird hoffentlich ihre Verschiedenheit von Bechstein's Sagenschatz und Sagenbuch nicht unbemerkt bleiben, ein Unterschied, der die nochmalige Revision dieses Sagengebiets wohl rechtfertigen dürfte, hier aber unerörtert bleiben mag. Ich verkenne keineswegs Bechstein's Verdienst, Sinn und Liebe für die heimathliche Sage in Thüringen geweckt und gepflegt zu haben. Dieses Verdienst soll ihm ungeschmälert bleiben.
Meine Absicht war und ist darauf gerichtet, alles was von alten Sagen, Gebräuchen und Glauben, geschichtlichen, lokalen und volksthümlichen Inhalts, in Thüringen unter dem Volke einst heimisch war oder in seiner Erinnerung noch lebt und in Uebung ist, möglichst vollständig und treu der Ueberlieferung in dieser Sammlung nieder zu legen. Ich habe mit den Sagen den Anfang gemacht und bringe in diesem ersten Theile zuerst die geschichtlichen Sagen des Thüringer Landes, dann Orts- und Volkssagen. Da nun der größte Theil derselben schriftlichen Quellen entnommen ist, so will ich kurz angeben, wie ich diese Quellen für meinen Zweck gebraucht und benutzt habe.
Bei den geschichtlichen Sagen bin ich selbstverständlich immer zur ältesten Quelle zurückgegangen und habe ihr, weil sie am einfachsten, noch ohne alle Zuflüße und Einflüße einer spätern Zeit den Inhalt der Sage giebt, denselben tren und wörtlich entnommen, ohne jegliche Zuthat, Ausschmückung und Ergänzung. Nur dann bin ich von diesem Verfahren abgegangen, wenn der ältern Quelle absonderliche Geschmacklosigkeit und Ungenießbarkeit dazu aufforderte, was bei der breiten und formelhaft - gespreizten Erzählungsart der Reinhardsbrunner Klosterannalen zuweilen geboten war. In solchem Falle bin ich einer jüngern Ueberlieferung unbedenklich gefolgt, zumal wenn dieselbe dem Inhalte nach von der ältern Aufzeichnung nicht verschieden war. So habe ich diesen Annalen das „ Leben des heil. Ludwig“ als Sagenquelle fast überall vorgezogen und aus ihr, deren innige Auffaßung und herzliche, lebenswarme Sprache noch ganz besonders anmuthet, die Sagen von der heil. Elisabeth und Ludwig, ihrem Gemahl, geschöpft. Der spätere Johannes Rothe hat in seiner thüringischen Chronik schon versucht bald durch eigene Abänderungen, bald durch Zuthaten aus dem Munde des Volks der ältern Ueberlieferung eine besondere Bedeutung und lokale Beziehung zu geben. Von diesen Interpolationen wird in den Anmerkungen zu den Sagen weiter zu reden sein.
Unter den spätern Chronisten schien Joh. Bange die meiste Berücksichtigung zu verdienen, dessen schlichte und einfache Erzählungsweise der Sage Ursprünglichkeit und Volksthümlichkeit noch in späterer Zeit wohl bewahrt und erhalten hat. Ihm ist auch J. Grimm als einem zuverläßigen Gewährsmann in denjenigen Sagen, welche dem thüringischen Boden angehören, gewöhnlich gefolgt. Aber auch Gerstenberger's thür. hess. Chronik und noch die eine oder die andere boten Eigenthümliches und waren hier und da in den Vordergrund zu stellen. Außer den ältern und jüngern thüringischen Chroniken habe ich Cäsarius von Heisterbach, die gereimten Lebensbeschreibungen der heil. Elisabeth, die handschriftlichen Chroniken von Schlorf und Hogel, Rebhan's historia ecclesiastica Isenacensis, gleichfalls Mipt., benutzt und aus denselben theils neue Sagen, theils bekannte in besonders ansprechender Form aufgenommen.
Wollte ich auf diese Weise den geschichtlichen Sagenstoff nach Inhalt und Form möglichst rein und volksthümlich herstellen und wiedergeben, so glaubte ich auch aus demselben ausscheiden und entfernen zu müssen, was mit Verkennung des echten Sagengehalts ganz ohne Fug und Recht in denselben eingeführt worden war. Bechstein hat in beiden Sammlungen allerlei Erzählungen auf dem Gebiet der Sage unterzubringen gesucht, die ihm für immerfern bleiben müssen.
Den Volks- und Ortssagen bin ich auf demselben Wege nachgegangen und habe sie gleichfalls stets nach den ältesten Aufzeichnungen mitgetheilt. Glücklicher Weise gehört ein guter Theil derselben noch jener Zeit an, in welcher die Sage überall unter dem Volke lebendig war, treu dem Volksmunde nacherzählt wurde und man nicht daran dachte, aus Büchern und Schriften Sagen fremder Gegend in die Heimath zu verpflanzen, um einem hübschen Plätzchen in der Umgegend, einem Berge oder Walde, der seltsamen Bildung eines Felsen oder sonst einer Lokalmerkwürdigkeit eine Sage anzudichten und eine historische Bedeutung, einen romantischen Glanz und Schimmer zu verleihen. Diese Untreue und moderne Industrie, der ich auf meinen Wanderungen und Nachforschungen an mehr als einer Stelle begegnet bin, ist Paullini, Prätorius und andern Sagensammlern der frühern Zeit durchaus fern und unbekannt; darum habe ich ihre Angaben und Mittheilungen stets zur Grundlage der meinigen. gemacht und selbst den mündlichen Mittheilungen der Gegenwart vorgezogen.
Doch nicht für alle hier gesammelten Sagen waren ältere Niederschriften vorhanden; viele Sagen haben auch in Thüringen ihr Dasein und Leben bis in die neueste Zeit herab nur unter dem Volke gefristet und find in verschiedenen, der Heimathskunde und Lokalgeschichte gewidmeten Werken und Zeitschriften aus dieser und jener Gegend mitgetheilt worden. Diesen Quellen glaubte ich ebenfalls vertrauen zu dürfen. Auch einige neuere Sammlungen sind benugt worden, namentlich Börner's Volkssagen aus dem Orlagau, deren Echtheit mir verbürgt, deren Form aber hin und wieder von einer unnöthigen Stilverzierung zu entfleiden war.
Noch habe ich ein altes Manuscript benußt, welches aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammt und Sagen aus der Gegend von Stadt- Ilm und Saalfeld breit und weitläufig ausspinnt. Den ungenicßbaren Erzählungen mag wohl ein guter, volksthümlicher Kern zu Grunde liegen; ich habe ihn einigemal aus seiner dichten Umhüllung herauszufinden versucht. Es ist dieselbe Niederschrift, welche auch L. Bechstein gehabt und seinen in der Thuringia 1841 mitgetheilten Sagen aus der Umgegend von Rudolstadt und Blankenburg zu Grunde gelegt hat.
Einzelne Sagen sind nach mündlichen Mittheilungen, die ich selbst erhalten hatte, niedergeschrieben; andere, gleichfalls den Erzählungen des Volks nachgeschrieben, verdanke ich der Theilnahme und Beihilfe lieber Freunde. So hat Herr Archivsecretär Karl Aue in Weimar eine schon vor Jahren angelegte Sammlung von Sagen mir für meine Zwecke überlassen, mich auch sonst mit guten Nachweisungen unterstützt.
Für diese freundliche Unterstüßung sei ihm und allen andern, die meine Arbeit durch Rath und That gefördert haben, namentlich Herrn Bibliothekar Dr. Reinhold Köhler in Weimar und Herrn Karl Hermann, Mitglied der thüringischen Eisenbahn- Direction in Erfurt, welcher Hogels handschriftliche Chronik und andere Schriften aus seinem reichen Bücherschahe mir mitzutheilen die Güte gehabt hat, hier öffentlich herzlicher Dank ausgesprochen. In dieser Weise war ich bemüht, dem thüringischen Sagenschatz theils durch sorgfältige Revision der schon vorhandenen und bekannten, theils durch Ansammlung vergeßener und unbekannter Sagen die nothwendige Ursprünglichkeit des Inhalts und der Form, dazu auch eine gewisse Vollständigkeit zu geben und so diese Sammlung vielleicht auch andern höhern Zwecken dienlich und brauchbar zu machen.
Ich gedenke den einzelnen Sagen auch erklärende Anmerkungen folgen zu laßen, welche Ursprung, Bedeutung und Zusammenhang derselben mit andern Sagen, volksthümlichen Gebräuchen und Vorstellungen erläutern sollen. Sie stehen aber wohl zweckmäßiger am Ende der ganzen Sammlung, da erst dort eine Menge von Beziehungen klar und deutlich hervortreten können und das Verständniß wesentlich erleichtern.
Wohl weiß ich, daß diese Sammlung thüringischer Sagen keineswegs die nöthige Vollständigkeit und Abrundung erhalten hat, indem selbst auf dem durchzogenen Gebiete hier und da noch manche hübsche, bedeutsame Sage in stiller Verborgenheit ihr ungekanntes Dasein fristen mag, überdieß auch nur ein Theil des Thüringerlandes darin Berücksichtigung gefunden hat, andere Gegenden noch ganz unvertreten sind. Dennoch habe ich mit der Herausgabe dieses ersten Theils nicht länger zögern wollen, hoffend und wünschend, daß dessen Veröffentlichung dem Unternehmen freundliche Unterstügung, Beihilfe und Ergänzung zuwenden möge. Denn selbst die Aehrenlese, welche auf dem betretenen Felde allein noch übrig ist, vollständig zu vollbringen, dürfte dem Einzelnen bei allem Fleiße, bei aller Liebe und Ausdauer kaum möglich sein, dagegen kann bei liebevoller Theilnahme Anderer an diesem Sammelwerke auch die entlegene, verborgene und schon in den Boden getretene Aehre leicht aufgefunden und heimgebracht werden.
Deshalb richte ich schließlich an alle diejenigen, welche im Stande sind, mich bei der beabsichtigten Fortsetzung dieser Sammlung thüringischer Volksüberlieferungen zu unterstützen, die angelegentliche und vertrauensvolle Bitte, mir alles, was meinem Zwecke förderlich sein kann, freundlichst mittheilen zu wollen. Ich werde jeden Beitrag von Sagen, Gebräuchen und Aberglauben aus Thüringen, mag er den Sammlern selbst unbedeutend, ja verächtlich erscheinen, sowie jeden Nachweis derselben in ältern und neuern Schriften mit dem herzlichsten Danke annehmen und gewißenhaft benutzen. „Das Geschäft des Sammelns„, sagt J. Grimm in der Vorrede zum ersten Bande seiner deutschen Sagen, „sobald es einer ernstlich thun will, verlohnt sich bald der Mühe und das Finden reicht noch am nächsten an jene unschuldige Lust der Kindheit, wenn sie in Moos und Gebüsch ein brütendens Vöglein auf seinem Nest überrascht; es ist auch hier bei den Sagen ein leises Aufheben der Blätter und behutsames Wegbiegen der Zweige, um das Volk nicht zu stören und um verstohlen in die seltsam, aber bescheiden in sich geschmiegte, nach Laub, Wiesengras und frischgefallenem Regen riechende Natur blicken zu können.“ Für jede Mittheilung in diesem Sinn werde ich dankbar sein.
Eisenach, am 1. Februar 1866. Dr. August Witzschel
Quellen:
- Dr. August Witzschel: Sagen aus Thüringen. Meersburg und Leipzig 1930