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Anmerkungen
In Bezug auf Anordnung und Inhalt der vorstehenden Sagensammlung hat sich der Verfasser ziemlich enge an den verdienstvollen J. W. Wolf und dessen „Hessische Sagen„ (Göttingen, Vogel 1873) angeschlossen, ohne indes demselben sclavisch zu folgen. Im Ganzen theilt er dessen dort in der Vorrede und den Anmerkungen aufgestellte Gesichtspunkte, und ergänzt und seht fort, was jener so erfolgreich angebahnt hat. Freilich befindet er sich Wolf gegenüber in der glücklichen Lage, als geborner Oberhesse, Land und Leute von Kindesbeinen an genau zu kennen, so daß seine ganz selbständige und durchaus neue Sammlung, trotz des geographisch weit beschränkteren Bodens, doch weit reichhaltiger ausfallen konnte, als man auf den ersten Augenblick wohl vermuten möchte. Oberhessen und insbesondre der Vogelsberg ist, Gottlob! eine Gegend, wo das eigentliche Volk noch immer singt und sagt, darum ist denn auch dem Verfasser der Stoff zugefloßen von allen Seiten, er wußte nicht wie, ja er hat oft gerade da am Meisten gefunden, wo Andere leer ausgegangen sind.
Für sich selber nimmt er dabei nichts in Anspruch als die Treue in der volkstümlichen Wiedergabe der ihm mitgetheilten Mären , deren Erzähler schon großen Theils der Rasen deckt. Manche derselben gehen zwar , wie Alles, was im Volke lebt, in allerlei Varianten um , die Mehrzahl aber ist nur das Eigentum Weniger geblieben und würde also unrettbar mit denselben verloren sein.. Aus diesem Grunde glaubte er auch ähnlich Klingendes in verschiedenen Sagen nicht weglassen zu sollen.
In Bezug auf Alter dürften wohl die Sagen vom Wilden Jäger, und unter ihnen besonders die vom König Nimrod, seine Erscheinung am Wanderweg, u. A. ins Auge fallen. Er tritt noch ganz mit den alten Attributen und leibhaftig auf, als der „venator diabolus Nembroth“ des Rhabanus Maurus, oder gar ächt Vogelsbergisch! ― auf dem Schneeschlitten, Sage Nr. 49, bis er zum Jäger zu Fuß in der Volkserinnerung verblaßt. Wolf hat darüber so gut, wie Nichts, beigebracht.
Auch die Sagen über weiße Frauen sind sehr weit verbreitet, ja sie erzeugen sich noch immer neu im Volksmund, wie insbesondre die Sage Nr. 61 darthut, die der jüngsten Vergangenheit angehört und einen Winter lang in der Fassung, wie sie vorliegt, die ganze Umgegend erfüllte. Der Verfasser hat Gelegenheit gefunden die betreffende Person selbst zu sprechen, und wenn dieselbe auch etwas abweichend von der allgemeinen Sage erzählte, so erstaunte er sich doch höchlich darüber, wie richtig der Volksgeist Alles in die hergebrachte Anschauung einzureihen gewußt hat.
Zu der Sage Nr. 94 sei eine Hinweisung auf das altdeutsche Heldengedicht vom Wolfdietrich gestattet. Als Wolfdietrich Nachts im Walde an einem Feuer sitzt, naht sich die rauhe Els, das rauhe Weib und entführt den Helden in ihr Land. Sie ist eine Königin und wohnt auf hohem Felsen, zuletzt legt sie, im Jungbrunnen badend, ihr Gewand ab, und heißt dann, Frau Sigeminne, die schönste über alle Lande.
Auch die Vicentinischen Deutschen verehrten eine Waldfrau, daz wildaz wip, hauptsächlich zur Zeit der Zwölften. Die Vergleichung ist gewiß merkwürdig genug. Siehe auch Grimm, deutsche Mythologie S. 243.
Auch die Sagen Nr. 113-120 bedürfen einer Hervorhebung. Sie berühren eine der dunkelsten Seiten altheidnischer Anschauung, die zauberische Verwandlung von Menschen in Raubthiere. Wolf hat aus Hessen auch darüber nichts aufzufinden gewußt; ohnedies sind hierbei gerade die Leute sehr schweigsam. Um so mehr freut sich der Verfasser etwas darüber erhascht zu haben. Die Sage Nr. 157 ist die auch in Grimms deutschen Sagen I. 440 von der Richmut von Adocht, der Bürgermeisterin zu Köln, erzählte. In Ilbeshausen, ebenso in Freienseen und anderwärts, geht diese Erzählung noch jetzt im Schwange, obschon alle und jede Kenntnis der Bedeutung des Stoffes den Leuten mangelt. Ein merkwürdiges Beispiel davon, wie die Sage, gleich einer Schmarotzerpflanze, auch oft die Wahrheit der Geschichte überwuchert, ist Nr. 210. Die sog. Razenkatrein ist nämlich keine. Hexe gewesen, noch als solche verbrannt worden, sondern erweisbar eine Kindsmörderin, die mit Fug und Recht enthauptet wurde. Ethische Bedeutung muß also der landläufigen Volksüberlieferung in diesem Falle abgesprochen werden.
Nicht besser verhält sich's mit Sage 214. Auch diese ist historisch vollständig ohne Grund. Es waren einmal der Dörfer mehr, als die Sage meldet, sie waren aber meist unbedeutend, und starben, als „das große Sterben“ grassierte, theilweise aus, so daß die Reste der Einwohner aus Noth in Laubach eine Zuflucht suchten. Noch jetzt haben Nachkommen derselben auf der Stätte des ehemaligen Dorfes Wiesen und anderes Besitztum. Noch jetzt jagt man dort spottweise, wenn sich Leute in einem Hause der Stadt zanken: „Die sind aus den sieben Dörfern zusammengesetzt.“ Dann aber findet sich in der Zeit des Verschwindens der Dörfer die Familie der Grafen von Solms noch gar nicht im Besitz von Laubach. Die Herrschaft Laubach und Lich gehörte den Dynasten von Minzenberg. Vor 1400 waren die Dörfer ausgegangen. 1419 kam erst Laubach an Solms. Bei dieser Gelegenheit erscheinen die Dörfer urkundlich als Wüstungen. 1544 erst entstand die reichsfreie Linie Solms-Laubach, begründet durch einen Stiefbruder Philipps des Großmütigen von Hessen.
Berichtigung: Auf Seite 111 , Zeile 8 von unten , ist zu lesen Oberläube statt Oberläute.