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Von dem weißen Fräulein auf dem alten Schlosse bei Dermbach

Alle sieben Jahre läßt sich auf dem sogenannten alten Schlosse bei Dermbach das verwünschte Fräulein sehen. Sie ist gar bildschön von Antlitz und Gestalt, hat goldblonde Locken, trägt ein schneeweißes Gewand und einen glitzernden Schlüsselbund am goldenen Gürtel.

Eines Morgens wollte eine arme junge Frau von Dermbach, nachdem sie ihr säugendes Kind gestillt und eingeschläfert hatte, in den Wald, um zu brennen zu holen, und nahm ihren Weg über das alte Schloß. Als sie dieses erreicht, erschrak sie gewaltig, denn vor ihr stand die weiße Jungfer. Diese aber blickte sie mit ihren großen blauen Augen so freundlich an, daß die Frau sich ein Herz faßte und sie nach ihrem Begehr fragte. Darauf winkte ihr die Jungfer gar holdselig zu und führte sie mit Hülfe eines der Schlüssel durch eine früher nie gesehene schwere Thür in ein großes Gewölbe.

Hier schloß die Jungfer eine Menge Truhen vor den Augen der Frau auf, und als diese vor Erstaunen über den Reichthum die Hände zusammenschlug, lächelte das Fräulein und sprach: „Siehe, all das Gold, Silber und Edelgestein gehört demjenigen, der mich erlöst. Willst Du nun, daß dies alles Dein werde, so eile hinunter in Dein Haus und hole Dein unschuldiges Kindlein auf das Schloß, bringe auch ein weißes Tüchlein mit, dieses breite draußen aus und setze Dein Kindlein darauf; ich werde dann dasselbe dreimal küssen, ohne ihm auch das geringste Leid anzuthun; dann bin ich erlöst und Du bist die reichste Frau im Umkreis. Doch muß ich Dir noch bemerken, daß ich dann nicht in meiner jetzigen Gestalt erscheine. Du brauchst jedoch nicht zu erschrecken, denn Dir wie Deinem Kindlein wird und kann, wie ich Dir schon gesagt, kein Leid geschehen.“

Bei dieser Rede seufzte die Frau tief auf; doch die unermeßlichen Reichthümer, die sie hier vor Augen hatte, benahmen ihr bald jedes Bedenken. Sie eilte schnell nach Hause, holte ihr Kind und das weiße Tüchlein und that dann oben auf dem Schloßberg, wie ihr geheißen. Kaum hatte sie das Kind auf das Tuch gesetzt und sich einige Schritte davon zurückgezogen, als auch schon eine Menge Ungeziefer um das Tuch herum zu kriechen begann, ohne jedoch das Kind zu belästigen. Doch klopfte schon der Frau das Herz in banger Erwartung und Angst; als nun aber gar noch eine mächtige wohl an 20 Fuß lange Schlange mit dem Gesichte der Jungfrau herangekrochen kam und sich dem Kinde näherte, - da entsetzte sich die Mutter, und die Angst preßte ihr Herz zusammen; mit einem lauten Schrei kam sie der Schlange zuvor, raffte Kind und Tüchlein auf und stürzte, während die Schlange ihr nachseufzte, den Berg hinunter ihrem Hause zu.

Auch die alte Gänsehirtin und noch viele Andere sahen die weiße Frau, wie sie dreimal um eine Buche herumwandelte und sehnsüchtig nach ihnen hinwinkte. Sie wollte erlöst sein. Das aber verstanden die Weibsleute nicht und machten jedesmal, daß sie davon kamen. Im Gehen aber hörten sie, daß die weiße Jungfrau noch dreimal gar arg „größte“ (seufzte).

Quellen: