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Die Steinrutsche

Am südwestlichen Abhang des Thüringer Waldes, zwischen dem hohen Winsberg und der Vogelheide, in der Nähe der Orte Schweina und Waldfisch liegt eine Waldschlucht, zu deren Gipfel das Gestein treppenartig emporsteigt, und in einem hohen Granitfels endigt; diese düstre, schaurigschöne, mit Moos und Flechten bedeckte Felsentreppe heißt insgemein die Steinrutsche. Einst kam ein junges Mädchen dorthin, dürres Holz und Reissig zu sammeln. Da erblickt sie einen Jüngling in Landestracht mit einem weißen Kittel gekleidet, und hält ihn für einen Bauernburschen. Doch in der Nähe fieht sie, daß Antliß und Kleider ihm wunderbar erglänzen, und freundlich redet er sie an: Gehe mit mir! Folge mir! Ich führe Dich an einen schönen Ort, wo es Dir gewiß gefallen soll! Schüchtern folgt das Mädchen durch die Klippenschlucht der Steinrutsche; eine Felsplatte weicht dem sanften Fingerdruck des Jünglings, und es öffnet sich ein finstrer Gang. Das Mädchen zagt, aber der Führer spricht mit Worten der Verheißung auf sie ein, und sie folgt endlich, zumal sie sieht, daß die Kleider des Jünglings leuchten und den dunkeln Gang erhellen. Bald stehen sie an einer Thür, diese öffnet sich, und der Blick in eine vom hellsten Sonnenschein beglänzte paradisische Gegend wird frei. Lichthelle Wesen, dem Begleiter des Mädchens ähnlich, beleben sie; eine nahe, mit den allerköstlichsten Speisen und Getränken besetzte Tafel winkt einladend, das Mädchen ißt und trinkt, und wandelt nun gestärkt und froh belebt mit ihrem Führer durch die reizende Flur, wo sie des Schönen in Fülle wahrnimmt. Nach einer Stunde etwa nahen sie wieder jener Thüre, und dort spricht sie, im Begriff, diese schöne Gegend zu verlassen, Worte des Dankes, und äußert, daß sie immer hier bleiben möchte. Darauf bricht jener von den schönsten Blumen, bindet sie zum Strauß, giebt sie ihr zum Andenken, und spricht, sie durch den Gang geleitend: Gehe nach Hause und schmecke den Tod, dann wirst Du nie wieder dieses Gefild verlassen. In ihr heimathliches Dorf zurückgekehrt, kam dem Mädchen alles, was sie sah, gar unbekannt vor, weder erkannte sie die Leute, noch die Leute sie, bis sie nun ihre Geschichte erzählte, und einige Alte sich erinnerten, daß vor langen langen Jahren einmal ein junges Mädchen in die Steinschlucht gegangen, und nicht wieder gekommen sei. Ermüdet legte die Jungfrau sich nieder, und wachte nicht wieder auf. An ihrem Busen der Blumenstrauß war verwandelt in goldne Blätter und Stiele, und die Blumen waren bunte Edelgesteine.

Quellen: