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Die weiße Frau auf Schloß Liebenstein
Einem achtzehnjährigen Mädchen zu Schweina träumte vor vielen Jahren, sie solle auf das alte Liebensteiner Schloß hinauf gehen, und dort einen Geist erlösen. Eine weiße Gestalt trat vor ihr Bette, und bat sie dringend um die Gunst, hinauf auf das Schloß zu gehen. Und dies geschah dreimal hintereinander. Als es bereits dem Mädchen zweimal widerfahren war, sagte dieses seinen Aeltern den Traum, und diese redeten ihm zu, Folge zu leisten. Beim Drittenmale, als es noch unschlüssig war, fühlte es sich von unsichtbarer Hand gefaßt, und zum alten Schloß hinauf geleitet. Aus den Ruinen tönte eine Stimme: „Du Feine, Du Reine, Du Auserkorne, Jungfrau, im guten Zeichen geborne, Du kannst mich erlösen! Willst Du das?“ Das Mädchen antwortete: „So ich es vermag, so will ich es.“ „Ich war eine große Sünderin!“ erklang die Stimme wieder: „habe stets den Armen hart begegnet, und nie eines Hellers Werth in die Kirche geopfert, darum bin ich gebannt in diesen Mauern zu wandern. Willst Du mich erlösen, so opfre für mich in den drei Kirchen zu Liebenstein, Witzelrode und Barchfeld. Wenn du Brod backst, so nimm drei Theile des Teiges, und backe davon für die Armen; das muß geschehen zwischen Ostern und Pfingsten, und hast du das gethan, so komme am güldnen Sonntag wieder hier herauf, dann schlägt die Stunde meiner Erlösung, und Dir oder Deinen Nachkommen ist dann der Schatz beschert, der im Schlosse unter einer Steinplatte steht.“ - Als die Jungfrau das Alles gehört hatte, ging sie zurück, und befolgte treulich, was ihr die Stimme der weißen Frau geboten. Als der güldne Sonntag da war, erhielt sie Besuch aus ihrer Freundschaft, und als die Stunde der Entscheidung naht, spricht sie zur Gesellschaft beklommenen Herzens: „ich muß nun fort.“ Eine der jungen Mädchen erbietet sich zur Begleitung und die Freundinnen nahen gemeinschaftlich den Ruinen. Da erblicken sie oben in einer Fensteröffnung der alten Burg eine reizende, aber bleiche Dame, ganz in weißen Gewändern; diese winkt heraufzukommen. Als die Mädchen durch das Eingangspförtchen schreiten, vernehmen sie eine schöne Musik, der sie mit Entzücken lauschen, ohne eines runden Platzes in der Burg wahrzunehmen, der von Schutt und Gesträuch gesäubert ist, und auf welchem der heraufgerückte Schatz steht, und ohne etwas auf diesen zu werfen. Darüber kommt ungenützt das Ende der zwölften Stunde herbei, noch einmal zeigt sich die weiße Frau ganz nahemit verklärtem Gesicht, spricht: „Ich bin erlöst!“ und verschwindet. Auch die Musik verstummt, und unbelohnt geht die erkorene Jungfrau von dannen. Doch ergeht es ihr immer wohl, und unter ihren Nachkommen lebt die Sage von der Anwartschaft auf den Schatz fort bis auf diesen Tag.
Quellen:
- Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung, Band IV S. 159-161