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Vom Ottilienstein
Wenn man auf dem Suhlaer Markt steht, so sieht man ganz schroff hinter der Stadt den Domberg sich erheben und recht in der Mitte einen gewaltigen Felsen nackt aus dem grünen Laubgehölz hervortreten, das ist der Ottilienstein, welcher seinen Namen von einer ehemals darauf gestandenen, der heiligen Ottilia geweihten Kapelle hat. Um und an diesem Fels ist es nicht geheuer. Eine zarte, schlankgebaute Jungfrau macht zu gewissen Zeiten die Runde um den Stein, ohne daß man weiß, warum sie dort hinauf gebannt ist. Anch war einmal in Suhl ein armer Kupferschmieds - Lehrjunge, dem es bei seinem Lehrherrn sehr übel erging, so daß er oft wünschte, gar nicht mehr auf der Welt zu sein. Sonst war er ein stiller und frommer Mensch. Da geschah es, daß er jeden Morgen, wenn er aufgestanden war, drüben am Ottilienstein, der seines Lehrherrn Haus gegenüber lag, ein Lichtlein schimmern sah und wußte nicht, was das sei ´und zu bedeuten habe, sagte auch Niemand etwas davon, aus Furcht, ausgescholten zu werden, daß er sich um Dinge bekümmere, die ihm nichts angingen. Da er aber fort und fort die Lichterscheinung wahrnimmt, plagt ihn zuleßt die Neugierde, zu wissen, was es sei, und er entschließt sich, hinauf zu gehen auf den Stein, sobald sichs wieder zeige. An einem Sonntag Morgen erblickt er abermals das geheimnißvolle Licht, macht sich heimlich auf und klettert am Domberg hinan. Oben fand er aber von einem Licht keine Spur und schickte sich schon an, mißmuthig wieder heim zu gehen, da stand auf einmal ein Kober vor ihm, der war zu, und als der Lehrjunge diesen aufmachte, fand er ihn voll Frösche; zwar ärgerte sich der Junge darüber, doch nahm er den Kober mit und schüttete ihn zu Hause aus. Aber statt der Frösche fielen eitel alte Geldstücke aus dem Kober, so daß der arme Junge reich wurde.
Einmal saß auf dem Ottilienstein eine alte Frau und weissagte. Ein Hirte hörte ihr zu, wie sie sagte, daß Suhl in Feuer untergehen werde. Alles wußte sie ganz genau, sogar, wie viele Nägel zum Aufbau der neuen Kirche nach dem Brand, den sie prophezeihte, gebraucht werden würden. Ueber ihre Reden ergrimmte der Hirte und stieß sie herab, von dem steilen Felsen, aber es that ihr keinen Schaden, und sie kam unverletzt hinweg.
Bald darauf geschah es, daß Suhl abbrannte.
Quellen:
- Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung