<<< zurück | Sagen aus Thüringens Frühzeit, von Ohrdruf und dem Inselberge | weiter >>>
Vorwerks-Henns, auch Chal-Hans genannt
1) Dieser Mann, dessen Vater ein armer Fenstermacher in dem Dörfchen Thal war, hieß eigentlich Johannes Hornschuh. Er streifte schon als Jüngling gern durch Busch und Haide, kroch oft in der Ruine des Scharfenbergs umher und verkehrte viel mit den Hirten der benachbarten Ortschaften. Viel geheime Wissenschaft lernte er von dem Hirten Hans Heß; die Kräfte der Blumen und Kräuter, die Eigenschaften der Metalle und Steine. Er heirathete nach dem Tode seiner Eltern, und es ging ihm anfangs kümmerlich, obgleich er fleißig war, die Profession seines Vaters forttrieb und auch das bei schreinerte. Einst war er bei dem Wintersteiner Hirten gewesen, zur Zeit des Johannistages, wo vornehmlich die Erde den Schooß ihrer Wunder öffnet, wo das schwellende Leben des Lenzes den höchsten Punkt erreicht hat, Sommersonnenwendezeit. Henns hatte viele Kräuter gesammelt und kehrte über die wilden Bergforste heim.
Er hatte weit zu gehen, und es war schon Nacht, als er an dem Meißenstein stand, einer mächtig hohen, schroffen, senkrecht abstürzenden Felswand, in die nach der Sage des Volks ein Schloß verzaubert sein soll. Auf höchst gefährlicher Bahn kam Henns gänzlich vom Weg ab, es wurde stockfinster, er wußte nicht mehr, wo er war, und entschloß sich kurz, in der Wildniß des Gebirgs zu übernachten. Er war in einem engen wasserreichen Thal, und suchte sich am Fuß des Berges eine trockene Stelle. Von dieser Nacht hat Henns später selbst mancherlei erzählt, von Erd- und Wassergeistern, und wie sich mit ihm im Traumwachen viel Wunderliches ereignet. Unter andern träumte ihn, der Wintersteiner Hirt habe im Walde ein Zauberbuch gefunden, und als er nach mehrern Tagen wieder bei diesem einsprach, fand er ihn am Meissenstein, wirklich in einem Buche lesend.
Davon sagt und singt unter andern das Lied eines vaterländischen Dichters:2)
Am Walde stand ein Hirte
Mit einem dunkeln Buch.
Verwundrungsvoll umirrte
Sein Auge manchen Spruch.
Die schwarzen Blätter hatten
Schriftzüge groß und weiß,
Und ihre düstern Schatten
Umzog ein rother Kreis.
Und ob er auch im Lesen
Kein einz'ges Wort verstand,
Es war ein andres Wesen,
Was er in sich empfand.
Bald glänzt der Tag ihm prächtig,
Bald dunkelt es um ihn,
Jeht dämmert's mitternächtig,
Jeht sieht er Sterne glühn.
Halb wachend, halb im Traume
Folgt er der Zauberschrift,
Da tritt vom Waldessaume
Ein Fremder auf die Trift.
„Du bist es, den ich suche,„
Sprach er in Grimm und Hast;
„Was willst Du mit dem Buche?“
Schnell war der Hirt erblaßt
Er warf das Buch zur Erde,
Und der erschrockne Mann
Lief eilends nach der Heerde,
Froh, daß er so entrann.
Doch von des Waldes Wänden
Scholl es die Trifft entlang:
„Du Thor, aus Deinen Händen
Gabst Du den Höllenzwang!“
In das friedliche Thal kamen fremde Mönche, Jesuiten, welche Kunde von vielen verborgenen Dingen hatten; sie wohnten lange auf dem Heiligensteine, einem Wirthshaus nahe dem ehemaligen Kloster Weißenborn. Mit denen verkehrte Henns gar viel und studirte mit ihnen in alten Büchern; es wurden in dem verfallenen Klosterhof Schätze gegraben, und Hennsens häusliche Verhältnisse besserten sich merklich, nachdem jene Mönche wieder aus der Gegend verschwunden waren. Bald darauf fing er an, wahrzusagen und Menschen und Vieh auf die wunderbarste Weise, zu kuriren. Davon, was er alles offenbart, und wie merkwürdig er geheilt, ist die ganze Ruhl voll. Er hatte neben seiner Stube ein Kämmerchen, das niemand außer ihn betreten durfte; dort ging er jedesmal hinein, so oft iemand seine Kunst und Wissenschaft in Anspruch nahm, und wenn er heraus kam, wußte er Antwort zu geben und Rath zu ertheilen. Er soll einen Wassergeist gefangen gehalten haben. Oft sah man ihn morgens stillschweigend mit einem neuen irdenen Löpfchen aus dem vor seinem kleinen Haus vorbei fließenden Bach Wasser schöpfen und in das Kämmerchen tragen. Stets war seine Thüre von Menschen aus allen Ständen belagert, über zwölf Stunden weit kamen oft die Leute her, sich Raths bei ihm zu erholen; oft kamen Boten aus ganz weit entfernten Gegenden. Henns nahm nie von armen Leuten etwas für seine Hülfe an, ja er begabte noch die Dürftigen, auch von den Reichen hat er nie gefordert. Sah er voraus, daß ein Kranker nicht wieder aufkommen werde, so sagte er es gleich ohne Umstände, um den Leuten unnöthige Gänge und Kosten zu ersparen. Henns hatte wohl in seinem Innern den Geist der Ahnung, der ihn auf unbegreifliche Weise überkam; alt und lebensmüde starb er, und das Andenken an ihn bleibt in der ganzen Gegend unvergessen.
Quellen:
- Ludwig Bechstein - Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes, Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung