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Die Schloßjungfrau zu Schandau
G. Müller, in „Bunte Bilder a. d. Sachsenlande." 2. Aufl. 1892, S. 114.
Auf dem Schloßberge bei Schandau befindet sich neben anderen Resten einer ehemaligen Burg auch eine von Geröll schon zum Teil ausgefüllte Vertiefung, der Schloßbrunnen, von dem unter dem Volke eine gar wunderliche Sage geht. Man erzählt sich nämlich:
Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal in Schandau ein blutarmer, aber frommer Schneidergeselle. Er war meist allein, denn das wilde Treiben seiner Mitgesellen behagte ihm nicht. Die Schankhäuser besuchte er nur selten. Wohl aber ging er jeden Sonntag zur Kirche, und nach dem Gottesdienste stieg er bei günstigem Wetter in die schönen Berge.
So kam er einst an einem herrlichen Märztage, es war just Sonntag Judica, aus der Nachmittagspredigt und ging auf den Schloßberg spazieren. Rings um ihn sproßte und jubelte der Lenz. Unbemerkt war unser Schneider auf die Höhe des Kiefericht und in die Nähe des Schloßbrunnens gekommen. Er setzte sich dort gedankenvoll am Berghange nieder und blickte nach den fernen blauen Bergen und dem silberglänzenden Elbstrome im Thale.
Da trat plötzlich aus dem Gebüsch zu seiner Seite eine hochgewachsene Frauengestalt in altertümlicher Tracht hervor. Langsam schritt sie auf den bestürzten Schneidergesellen zu, der mit Verwunderung die seltsame Erscheinung anstarrte. Bei allem Schreck war er dennoch im Innern still beglückt; denn er glaubte noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Tiefe Trauer prägte sich auf ihrem Antlitze aus, und doch leuchteten ihre Augen hoffnungsfreudig auf, als sie zu dem Gesellen sprach: „Fürchte dich nicht! Ich bin das Schloßfräulein. Schon lange habe ich Dich beobachtet, wenn Du meinen Berg bestiegen hast. Ich weiß wie fromm und gut Du bist. Nur darum, und weil Du ein Sonntagskind, kannst Du mich sehen. Ehe ich aber weiter zu dir spreche, gelobe mir, keiner Menschenseele zu verraten, was Du hier hören wirst.“
Der Schneider konnte vor Angst und Erstaunen nur stammeln, daß er gegen jedermann schweigen wolle. Darauf fuhr die Schloßjungfrau fort: „Dich hat mir Gott gesendet, denn Du kannst mich erlösen. Schon seit 500 Jahren muß ich hier verzaubert für die Sünden meiner Vorfahren büßen. Nur aller 500 Jahre kommt der Tag, an dem ich gerettet werden kann, und zwar durch einen frommen Jüngling. So Du den Fluch von mir nehmen willst, komme über zwölf Tage, mittags 12 Uhr, wieder hierher. Beichte aber vorher Deine Sünden. Ich werde Dir dann wieder erscheinen, freilich in anderer Gestalt. So schrecklich ich Dir dann auch vorkommen mag, laß Dir nur nicht grauen, sondern küsse mich dreimal brünstig auf den Mund. Dann ist der Zauber gelöst, und ich werde mit all meinen Schätzen, die in diesem Berge verborgen sind, Dein werden können. Vergiß nicht, was ich dir sagte, schweige und lebe wohl!“
Mit diesen Worten war sie verschwunden. Wie aus einer Betäubung erwacht, starrte der junge Mann ihr nach. Er glaubte geträumt zu haben, doch so lebhaft träumt man nicht. Mit schwerem Herzen stieg er nach Schandau hinab. Nein, diese liebliche Gestalt konnte kein böser Geist sein. Und war nicht über zwölf Tage, wo er sie erlösen sollte, der hochheilige Charfreitag? So entschloß er sich, das Werk zu versuchen. In der Zwischenzeit mied er ängstlich den Schloßberg. Am Gründonnerstage aber ging er zur Beichte und zum Abendmahle und stieg am folgenden Tage nach dem Gottesdienste klopfenden Herzens zum Schloßbrunnen hinan. Mit bangem Mute wartete er der Dinge, die da kommen sollten.
Plötzlich, im Thale läuteten die Mittagsglocken, wand sich zu seinem großen Entsetzen aus der Tiefe des Brunnens ein greuliches Ungeheuer hervor. Ein grünlich schillernder Schlangenleib mit häßlichem Krötenkopfe, aus dessen Munde eine tiefgespaltene Zunge sich hervorstreckte, schob sich langsam auf ihn zu. „Nun küsse mich“, sprach das Ungeheuer, kam näher, erhob sich mit dem Vorderteile und brachte den Kopf in gleiche Höhe mit dem des Schneiders. Dieser hatte anfangs wie festgewurzelt dagestanden, jetzt aber wich er scheu zurück, bis er plötzlich mit dem Aufschrei: „Alle guten Geister loben Gott den Herrn!„ die Flucht ergriff.
„Thörichter! was thust Du?“ rief die Schloßjungfrau dem Fliehenden nach, und mit dem schmerzlichen Ausrufe: „Nun muß ich abermals 500 Jahre verzaubert bleiben!“ sank sie in die Tiefe des Schloßbrunnens zurück.
Erst nach langer Zeit wagte sich der Schneider wieder auf den Schloßberg, doch die Jungfrau erschien ihm nicht mehr. Er bereute tief, daß er nicht den Mut besessen, die Unglückliche zu erlösen. Sein steter Gang am Charfreitage war auf den Schloßberg und an einem Charfreitag hat man ihn auch einmal, nachdem er zu hohen Jahren gekommen war, dort tot neben dem Brunnen gefunden.
Quelle: Sagenbuch der Sächsischen Schweiz; Herausgegeben von Alfred Meiche, Leipzig 1894, Verlag von Bernhard Franke