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Die Rottweiler Esel

Eine mündliche Überlieferung aus Rottweil

Die Bürger von Rottweil fanden einst, als ihre Stadt noch eine freie Reichsstadt war, einen großen Kürbis auf dem Feld und hielten ihn für ein Ei; konnten aber gar nicht herausbringen, was für ein Vogel es wohl gelegt haben möge. Sie beschlossen daher, um über das merkwürdige Ei ins Klare zu kommen, dass der Bürgermeister es ausbrüten solle. Da half kein Weigern und Widerreden; es wurde kurz und gut dem Bürgermeister eine Frist angesetzt, binnen welcher er das Ei ausgebrütet haben müsse. Und so saß er nun Tag und Nacht und brütete.

Als aber nach Verlauf der bestimmten Zeit nichts Lebendiges zum Vorschein kommen wollte, beschloss man, das Ei, weil es vielleicht schon faul geworden war, über die Mauer zu werfen. Und das geschah denn auch. Wie aber der Kürbis zur Erde fiel und zerplatzte, da sprang ganz erschreckt ein Hase, der an der Mauer geschlafen hatte, auf und davon, sodass man hätte glauben sollen, er sei aus dem Kürbis gekommen.

Die Rottweiler glaubten das auch steif und fest und schrien, als sie das langohrige Tierchen laufen sahen: »Da schaut, schaut! Ein junger Esel ist in dem Ei gewesen!« Seitdem führen sie den Spottnamen die Esel.

Ein Maler, der diese Geschichte kannte, brachte einen Esel auf die Stadtfahne der Rottweiler. Er malte ihnen nämlich die Flucht Christi nach Ägypten darauf, malte aber alles mit Wasserfarben, nur für den Esel nahm er Ölfarbe. Als nun einst bei einer Prozession ein heftiger Regen fiel, wurden die Wasserfarben verwischt und fast ausgelöscht, und der Esel allein blieb auf der Fahne übrig.

Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852