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Der Herr von Falkenstein
Ein Ritter aus dem Kinzigtal, Kuno von Stein, wollte unter Gottfried von Bouillon das Heilige Grab erobern helfen und nahm Abschied von seiner Gemahlin mit den Worten: »Wenn ich nach Jahresfrist nicht wieder hier bin, so bin ich tot, und du darfst meiner nicht länger warten.«
Im heftigen Streit vor Jerusalem wurde der Ritter von den Sarazenen gefangen genommen, als Sklave verkauft und musste als solcher am Pflug ziehen und das Feld umackern. So war bereits ein Jahr verstrichen. Wie er nun einst in einer schlaflosen Nacht seines fernen Weibes und seines Abschiedswortes gedachte, trat ein kleines Männlein zu ihm her und versprach, ihn noch vor Anbruch des Tags in seine Heimat zu bringen. Die Bedingung aber war folgende: Wenn der Ritter die ganze Nacht während der Reise wach bleibe, so wollte das Männlein ihn umsonst hinschaffen. Wenn er aber einschlafe, so solle er mit Leib und Seele dem kleinen Männlein verfallen sein. Der Vertrag wurde schriftlich aufgesetzt, und alsbald befand sich der Ritter von Stein auf dem Rücken eines Löwen und flog durch die Lüfte.
Wie er nun sanft gewiegt dahinfuhr, überfiel ihn mit einem Mal eine unwiderstehliche Müdigkeit. Er senkte sein Haupt auf die Mähnen des Löwen und wollte eben einschlummern, als er plötzlich einen Schlag ins Gesicht bekam, dass er auffuhr und aufblickte. Da sah er einen großen weißen Falken über sich in den Lüften schweben. Der Schlaf aber übermannte ihn bald wieder so sehr, dass er abermals sein Haupt senkte und eben einschlafen wollte, als er mit einem weichen Flügel einen zweiten Schlag ins Gesicht erhielt, also, dass er schnell sich aufraffte und wieder den weißen Falken dicht über sich sah. Wie sehr er sich jetzt aber auch anstrengte, um wach zu bleiben, so war er doch nach einiger Zeit schon wieder nahe daran, einzuschlummern, als der weiße Falke ihm einen dritten Schlag versetzte.
Mit Entsetzen erwachte der Ritter von Stein aus seiner Betäubung und erkannte, welcher Gefahr er nun schon zum dritten Mal entgangen war. Da dämmerte bald der Morgen. Er sah bereits am Horizont die Zinnen seiner Burg, und bald setzte ihn der Löwe vor den Toren derselben nieder. In dem nämlichen Augenblicke fiel der Pergamentstreifen, auf welchem er sich dem Teufel verschrieben hatte, zerrissen zu seinen Füßen hin, und ein heftiger Sturm brach los und tobte um seine Burg, bis die Sonne aufging. Da sah der Ritter von Stein den weißen Falken auf dem Turm seines Schlosses sitzen und warf seinem Retter seinen Dank zu.
Zum Andenken aber nahm er den Falken in sein Wappen auf und nannte seine Burg und sein Geschlecht danach Falkenstein.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852