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Das verwunschene Fräulein
Eine mündliche Überlieferung aus Bühl bei Tübingen
Der alte Mannus (Magnus) Seile aus Bühl diente in seiner Jugend bei einer Herrschaft im Sigmaringischen, in Bittelschieß, und mit ihm diente daselbst noch ein anderer Knecht. Dieser erzählte dem Mannus eines Tages, dass ihn schon zweimal auf dem Feld ein wunderschönes Fräulein besucht habe, das singe so lieblich wie die Engel im Himmel und verspreche ihm viel, wenn er es erlösen wolle. Er wisse gar nicht mehr, was er tun solle; Mannus möge ihm doch raten.
Mannus sprach: »Ich glaube, das ist göttlich. Du solltest einmal mit ihr gehen!«
Dazu war der Knecht denn auch entschlossen, und als das Fräulein zum dritten Mal wiederkam, so folgte er ihm. Da führte es ihn in eine Bergschlucht durch zwei Türen hindurch, die geöffnet waren; eine dritte Tür aber öffnete es selbst. Da stand vor seinen Augen alles, was nur Herrliches und Schönes in der Welt gesehen werden konnte: Gold, Silber und Kostbarkeiten aller Art.
Darauf sprach das Fräulein zu ihm: »Sieh, dies alles ist dein, wenn du mich dreimal küssen willst. Ich werde dir in drei Gestalten erscheinen. So komme ich das erste Mal als Krott (Kröte), das zweite Mal als Frosch, das dritte Mal als feuriger Drache, und jedes Mal musst du mich küssen. Sei nur ohne Furcht! Vorher aber ist es nötig, dass du eine Generalbeichte ablegst.«
Da versprach der Knecht dies alles genau so zu tun und legte die Beichte auch wirklich ab.
Mittags um 12 Uhr hörte man die Jungfrau oft mit heller Stimme singen. Sie besuchte dann den Knecht, während er auf dem Acker war, und brachte ihm in silbernem Geschirr allerlei Gutes zu essen und zu trinken.
Wie sie dann zu der bestimmten Zeit ihm als Krott und darauf als Frosch erschien und sprach: »So komm ich !«, da küsste er sie jedes Mal. Wie sie aber in ihrer dritten Gestalt als feuriger Drache kam, da wurde es ihm Angst und Bange ums Herz und er vermochte sie nicht zu küssen, sondern lief davon.
Da rief sie jammervoll: »Jetzt bin ich ewig verloren!« Sie rannte ihm nach und lief nach Bittelschieß. Hier stürzte sie sich so heftig an die kleine Kirchentür, dass sie sich verwundete, wobei an die Tür einige Blutstropfen spritzten, die dort noch immer zu sehen sind und nicht verschwinden wollen.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852