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Das Heidenloch

  Mündlich aus Heidelberg

Auf dem Michelsberge bei Heidelberg ist eine Vertiefung, die das Heidenloch heißt. Es soll hier ehedem ein heidnisches Orakel gewesen sein. Dieses Loch ist, wie man erzählt, der Ausgang eines unterirdischen Ganges, der von den zwei letzten Bogen des Heidelberger Schloßes aus, unter dem Neckar hin, bis hieher geführt worden.

Einst wurde ein zum Tode Verurtheilter an Stricken in den Gang hinabgelassen, weil man ihm versprochen hatte, daß, wenn er glücklich wieder herauskomme, ihm das Leben geschenkt sein solle. Dieser Mann erzählte nachher: er sei alsbald an zwei Löwen gekommen und die hätten auf zwei eisernen Kisten geseßen; und als er sich durch sie hindurchgewagt, hätten sie ihm kein Leid zugefügt. Darauf sei er an eine eiserne Thür und durch dieselbe in ein weites Zimmer gekommen; darin hätten drei Männer mit langen Perücken gesessen und geschrieben und viele Pergamentstücke vor sich gehabt. Auf die Frage: was er da wolle? habe er ihnen seine Geschichte erzählt. Alsdann hätten sie ihm gesagt: er solle sich Geld nehmen, so viel er möge; übrigens sei er der letzte, der lebendig aus diesem Gange wieder heraufkomme, und das solle er da Oben nur sagen, auf daß es ja Niemand mehr wage. Zum Zeugnis aber, daß er dagewesen, gaben sie ihm ein Stück Pergament, das mit unlesbaren Schriftzügen beschrieben war und das noch jetzt in der Heidelberger Bibliothek sich befinden soll. Als der Mann wieder heraufgewunden wurde, waren seine Haare vor Schrecken und Angst schneeweiß geworden. Seither hat es Niemand gewagt, in den Gang hinabzusteigen.

Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852