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Der Mädchenfels

  Eine mündliche Überlieferung aus Reutlingen und Pfullingen

Über den sogenannten Mädlesberg bei Pfullingen ging einst eine schöne Jungfrau. Da traf sie ein Jäger, der in böser Lust entbrannte. Und weil die Jungfrau ihm nicht zu Willen sein wollte, versuchte er, ihr Gewalt anzutun. Sie ergriff endlich die Flucht. Der Jäger eilte ihr nach und trieb sie an einen steilen Felsabhang, wo er sie schon mit den Händen ergreifen wollte. Doch um ihre Ehre zu retten, stürzte sich die Jungfrau kühn in die Tiefe hinab, kam wohlbehalten unten an und ging weiter. Wie das der Jäger sah, glaubte er ebenfalls den Sprung wagen zu können, stürzte sich hinab und fand auf der Stelle seinen Tod und seine Strafe.

Man sagt auch, diese Jungfrau sei eigentlich eine von den Nachtfräulein des Urschelberges gewesen und habe oft auf dem sogenanten Mädlesfelsen gesessen, gestrickt, die schöne Gegend betrachtet und sich gesonnt. Wie sie dann der Iäger habe berühren wollen, sei sie hinabgesprungen, und er ihr nach.

Noch andere sagen, der Jäger sei aus Verzweiflung und weil er Gewissensbisse bekommen hatte, hinabgesprungen, denn von oben habe er die Jungfrau in der Tiefe nicht sehen können und hätte annehmen müssen, sie sei tot, und zwar durch seine Schuld.

Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852