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Der Drache auf Drackenstein
Eine mündliche Überlieferung aus Owen
In einem tiefen, wilden Albtal, dem sogenannten Drackensteiner Tälchen, das in das Filstal mündet, liegt das Dorf Drackenstein. Ehemals stand hier auch ein Schloss, das denselben Namen führte. In dem freistehenden Felsen, auf welchem die Kirche erbaut ist, befindet sich eine Höhle, das »Totenloch«, und dem gegenüber liegt eine zweite Höhle, das »Drachenloch«. Darin soll noch immer ein Drache hausen. Von diesem erzählt man sich folgende Geschichte.
Einst hatte der Drache eines Kaisers Tochter geraubt und hielt sie fünf Jahre lang hier gefangen, indem er sie zu heiraten gedachte. Aber sie wollte sich ihm nicht ergeben, wie sehr er sich auch um sie bemühte. Er schenkte ihr zum Beispiel drei prachtvolle Kleider. Auf dem einen war die Sonne abgebildet, auf dem anderen der Mond, auf dem dritten die Sterne. Aber seine Bewerbungen wies sie immer zurück. Da geschah es, dass sich ein Schneider, der aber nichts als Bälle machen konnte, in dieser Gegend verirrte, die Jungfrau allein auf dem Drackenstein antraf und sie fragte, ob sie sich auch verirrt habe. Da erzählte sie ihm, sie sei die einzige Tochter des Kaisers von Marokko. Eines Tages nämlich, als sie eben ihr Haar gemacht und sich geschmückt habe, sei ein Drache durchs Fenster geflogen, habe sie gefasst und sei mit ihr übers Wasser geflogen und habe sie hierher gebracht, wo er sie nun schon fünf Jahre lang festhalte.
Darauf beredete sich die Jungfrau mit dem Schneider, dass sie fliehen wollten. Sie versprach demselben, wenn er sie glücklich von hier wegbringe, so wolle sie ihn heiraten und er solle dann Kaiser werden. Nun passten sie auf, zu welcher Zeit der Drache am längsten ausblieb. Als sie das wussten, gingen sie eines Abends miteinander fort. Der Schneider hatte die drei schönen Kleider der Prinzessin in seinen Ranzen gesteckt, und so wanderten sie munter und rüstig dahin, bis sie sicher waren, dass der Drache sie nicht mehr einhole. Da wurde die Reise aber dem Ballmacher zu lang und er sagte zu der Prinzessin, sie solle einstweilen nur allein nach Hause gehen, er wolle schon nachkommen. Und so trennte er sich von ihr und zog auf einer anderen Straße weiter, lebte lustig und guter Dinge, bis er sein Geld vertrunken hatte. Dann reiste er gleichfalls zu der Kaiserstadt. Da sah er vor einem Haus ein Netz mit Bällen hängen und bekam plötzlich wieder Lust zu seinem Gewerbe und ließ sich sogleich als Geselle annehmen. Dann las er nach einiger Zeit, wie der Kaiser ausschrieb: Wer binnen drei Monaten drei Kleider machen könne, auf denen Sonne, Mond und die Sterne stünden, der solle zehntausend Gulden bekommen. Es müsse aber jeden Monat eins fertig werden. Zugleich wollte der Kaiser für jeden Monat tausend Gulden als Vorschuss geben. Da fielen dem Ballmacher die drei Kleider wieder ein, die er noch in seinem Ranzen hatte. Weil sich sonst niemand fand, der solche Kleider zu machen verstand, so sagte er endlich zu seinem Meister, er könne die Kleider für des Kaisers Tochter machen, worauf der Meister es sogleich dem Kaiser meldete und tausend Gulden im Voraus erhielt. Die übergab er seinem Gesellen, damit er sich kaufen könne, was er nötig hätte. Allein der Geselle ging alsbald ins Wirtshaus und aß und trank mit seinen Kameraden und fuhr in schönen Wagen umher, bis der letzte Tag des Monats heranrückte. Da wurde es dem Meister himmelangst, als er noch nichts von dem Kleid sah. Er dachte: Wird es nicht fertig, so kann dir es den Kopf kosten. Deshalb stellte er den Gesellen zur Rede.
Der aber gab ihm gute Antwort und sprach: »Ich kann nur bei Nacht, wenn ich einen Rausch habe, an dem Kleid arbeiten, und deshalb muss ich den Tag über im Wirtshaus zubringen.«
Und richtig übergab er auch dem Meister am folgenden Morgen das erste Kleid, auf dem die Sonne dargestellt war.
Wie das des Kaisers Tochter sah, sprach sie: »Es ist gerade so wie das Kleid, das der Drache mir gegeben hatte.«
Darauf erhielt der Meister abermals tausend Gulden als Vorschuss, die er wieder seinem Gesellen gab. Der machte es nun ebenso wie im ersten Monat und verjubelte das Geld. Nach vier Wochen aber übergab er dem Meister das zweite Kleid mit dem Mond.
Als er dies dem Kaiser brachte, sagte die Tochter wieder: »Es ist ganz so wie das, was der Drache mir geschenkt hatte«, und verlangte, dass der Geselle das letzte Kleid, sobald es fertig sei, selbst überbringen solle.
Das war gut. Der Geselle bekam noch einmal tausend Gulden, lebte lustig davon und überbrachte dann nach vier Wochen das Sternenkleid selbst der Prinzessin. Die erkannte alsbald ihren Retter, fiel ihm um den Hals, herzte und küsse ihn. Nicht darauf hielten sie Hochzeit, und dann ist der Ballmacher noch Kaiser geworden.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852