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Die Jungfrau im Oselberg
Erusius, schwäb. Chron., Deutsche Ausgabe von Moser, Band II, Seite 441
Zwischen Dinkelsbühl und Hahnkamm liegt der sogenannte Oselberg, über den man nicht leicht zu Fuß oder zu Wagen kommen kann, weil er sehr hoch ist. Unten am Fuß des Berges liegt das Dorf Aufkirchen. Will man nun von einem Ort zum anderen reisen, so muss man um diesen Berg herumgehen. Und daher kommt das Sprichwort, das man zu einem seltsamen Menschen sagt: »Ich mein’, es irre dich der Oselberg.«
Auf diesem Berg stand ehemals ein Schloss, das entweder von den Hunnen oder von den Reichsstädten zerstört worden ist. In dem Schloss lebte eine Jungfrau, von der sagt man, dass sie mit den Mauern zugrunde gegangen und umkommen sei, zuvor aber mit ihrem Vater in seinem Witwenstand den Haushalt geführt und die Schlüssel zu allen Gemächern gehabt habe. Nach diesem kam ein Geschrei aus: Ihre Seele schwebe um die Schlossmauer herum und lasse sich alle Quartal, am Sonntag, nachts mit einem Schlüsselbund am Gürtel in jungfräulichem Anzug sehen. Dagegen sagen alte Bauern aus der Gegend, sie hätten von ihren Vätern gehört, dass diese Jungfrau eines heidnischen Mannes Tochter gewesen und in eine große schreckliche Schlange mit jungfräulichem Haupt und Brust verwandelt worden sei und gewöhnlich an den vier Quartalen des Jahres in dieser Gestalt mit einem Schlüsselbund am Hals sich habe sehen lassen.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852