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Die Sibylle auf Teck 2
Die drei Brüder auf Wielandstein machten der Sibylle vielen Kummer. Als sie sich trennten, baute sich der eine in ihrer unmittelbaren Nähe auf dem Teckberg an, und man glaubt, dass das württembergische Königshaus eigentlich von diesem ersten Herrn (Herzog) von Teck abstamme. Der andere baute nicht weit davon den Diepoldstein (Diepoldsburg), von dem noch mächtige Mauern zu sehen sind. Die Burg soll eine Fallbrücke gehabt haben, durch die man sich völlig abschließen konnte, und so führte hier der erste Inhaber derselben ein arges Räuberleben. Er bestahl besonders gern seine Brüder auf Wielandstein und Teck sowie auch seine eigene Mutter, von welcher er den Beinamen der »Rauber« erhielt. Dieser Name ist seiner Burg bis auf den heutigen Tag verblieben. Man nennt sie Rauber oder das Rauberschloss.
Aus Spott und Hass gegen seine Brüder nahm er auch alle solche Leute in sein festes Schloss, die das Leben verwirkt hatten und die vor seinen Brüdern geflohen waren.
Um den Verfolgungen leichter zu entgehen, ließ er seinem Reitpferd die Hufeisen verkehrt auflegen und täuschte dadurch oftmals seine Feinde.
Aus Gram über die Feindschaft ihrer Kinder hat Sibylle endlich das Land verlassen. Aber niemand weiß, wohin sie gezogen ist.
Indes alljährlich, wenn die Frucht zu reifen beginnt, kann man noch eine Stunde weit bis über die Lauter hinaus bei Dettingen die Richtung ihres Wagens, mit dem sie durch die Luft fahren konnte, verfolgen. Man sieht alsdann im Feld eine breite Wagenspur und unterscheidet ganz deutlich die Tritte von zwei Pferden, so wie die Sprünge des Hundes, der neben dem Wagen hergelaufen, als Sibylle weggezogen. Alle Stellen, über welche der Wagen und die Füße der Tiere damals hingegangen sind, die bleiben vierzehn Tage länger grün und haben auch später bei der Reife ein anderes Gelb. Sie sind mehr braun; die Frucht jedoch von diesen Stellen ist vortrefflich. Diese Wagenspur heißt allgemein »Sibyllenfahrt.«
Sie geht in gerader Richtung zuerst, vom Sibyllenloch aus, den steilen Teckberg hinab, dann wieder in die Höhe über den Kahlenberg, dicht unter dem »Mockel« hin (so heißt ein Fels, der auf dem Hohbohl oder Haubohl, dem höchsten Punkt des Kahlenbergs, steht); weiter über den Götzenbrühl, den Dettinger Teich hinunter durch die Lauter und die Weinberge, und verschwindet dann im Reigelwald. Das Laub der Bäume und Weinberge, über die sie hingefahren, bleibt ebenfalls brauner als das übrige Laub. Man hat wohl gemeint, die Sibyllenfahrt rühre von dem Erdreich her. Allein der Boden ist ganz derselbe, als der der übrigen Felder, weshalb es eine andere Bewandtnis damit haben muss.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852