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Rübezahl und die Springwurzel
Als Rübezahl lange Zeit danach wieder sein oberirdisches Reich besuchte, tat er es gewiss nicht der Menschen wegen, die er nicht mehr leiden konnte und an denen er hin und wieder seinen Mutwillen ausließ. Er wollte nur Abwechslung haben. Wanderer bekamen ab und zu Proben seiner Bosheit zu fühlen. So war mancher froh, dass er beim Überschreiten des Gebirges einen schönen, bequemen Weg fand. Wenn er aber, ein munteres Reiselied trällernd, sich recht umsah, da stand er urplötzlich vor einem Abgrund. Rechts und links und im Rücken starrten schroffe Felswände, und der erschrockene Mann hatte stundenlang Angst, Not und Mühe, um wieder auf einen gangbaren Pfad zu kommen. Fuhrleuten, die über das Gebirge kamen, spielte Rübezahl manchen Schabernack. Entweder blieben auf ganz ebenem Wege die Pferde plötzlich wie angenagelt stehen und waren stundenlang nicht vom Fleck zu bewegen, oder es löste sich von der Höhe ein Felsblock, der sich breit und tückisch vor das Gefährt legte und den verzweifelten Fuhrleuten die allergrößte Mühe machte, wenn sie die Bahn wieder freibekommen wollten.
Furchtsame Leute wurden wohl zu Tode erschreckt durch gräuliches Getier, das sie zu bedrohen schien, oder durch ein Höllengelächter, dem man nicht anhören konnte, woher es kam. Meistens kamen die Opfer von Rübezahls Launen mit dem Schrecken davon und lachten später über den Schabernack, den er ihnen gespielt hatte, denn der Berggeist war im Grunde gutmütig und half manchem aus der Not. Er wurde nur dann schrecklich, wenn die Menschen seine Güte missbrauchten.
Das erfuhr ein Schäfer in Warmbrunn. Dort war ein reicher Graf aus Böhmen eingetroffen, der Heilung von einem schweren Leiden suchte. Obschon der Kranke aber wochenlang die sonst so heilkräftigen Bäder brauchte und allen Vorschriften der Ärzte gewissenhaft nachkam, wurde es nur immer schlimmer statt besser.
Da traf sich's, dass der Schäfer eines Abends seine Herde vor dem Hause eintrieb, in dem der Graf abgestiegen war. Vor dem Tor stand ein herrschaftlicher Diener, mit dem er einige Worte wechselte. Da nun die Schäfer damals in dem Rufe standen, dass sie sich nicht allein auf Tierkrankheiten, sondern auch auf menschliche körperliche Leiden wohl verständen, und da auch fast alle ein wenig Quacksalberei trieben, so hielt ihn der Diener fest, teilte ihm die ganze Krankheitsgeschichte seines Herrn mit und fragte ihn um seine Meinung. Der Schäfer merkte bald, dass es sich um ein krebsartiges Leiden handle, machte ein bedenkliches Gesicht und sagte mit Bedauern: »Gegen ein solch Kreuz gib's kein Mittel, da mag nur die Springwurzel nützen.«
Als der Lakai dies Wort hörte, schoss er wie ein Blitz hinauf zur Gräfin und teilte dieser mit, der Schäfer, ein sehr kluger und erfahrener Mensch, wisse ein unfehlbares Mittel gegen die Krankheit des gnädigen Herrn, das sei die Springwurzel. Sogleich erfasste die Gräfin diesen Strohhalm von Hoffnung und ließ den Schäfer zu sich kommen. Der Mann kam, und die Gräfin bat ihn himmelhoch, sich über sein Heilmittel genauer zu äußern. »Mit der Springwurzel ist das ein eigen Ding«, sagte der Schäfer, »die hat eine Wunderkraft, die kein Magister oder Doktor bisher rausgekriegt hat. Eine verschlossene Tür springt auf, wenn einer die Springwurzel dranhält, und alles Vernagelte und Verkeilte ebenso, und so geh's auch mit allerlei Gebrechen und Tücken, die einer im Leib hat. Die Krankheit springt im Augenblick davon.«
»O, lieber Mann, dann besorgt mir eine solche Wurzel, ich will Euch die Mühe gern lohnen«, sagte die Gräfin. »Gott soll mich bewahren«, antwortete er. »Die ist nur in Rübezahls Garten zu finden, und wer sich dahin wagt, der riskiert Hals und Kragen, denn der Berggeist leidet nicht, dass ihn da einer stört. Hat sich mancher die Finger verbrannt und einen Denkzettel gekriegt, woran er für alle Zeit genug hatte.« Die Gräfin war nun keineswegs gewillt, den Mann mit seinem wertvollen Wissen nutzlos ziehen zu lassen. Sie bot ihm Geld. Hundert Taler versprach sie ihm. Doch der Schäfer wollte davongehen. Für noch so viel Geld wäre ihm sein Leben nicht feil. Sie vertrat ihm den Weg und bot das Doppelte, ja sie ging bis zu fünfhundert Talern. »Biete ihm tausend!«, rief ihr der Graf in französischer Sprache aus dem anstoßenden Krankenzimmer zu. Er hatte die ganze Unterredung vernommen. Die Gräfin bot ihm tausend Taler. Da war der Widerstand des Schäfers besiegt, und er versprach, die Springwurzel herbeizuholen und sich sofort auf den Weg zu machen.
Diesen Entschluss führte er sogleich aus und dachte dabei: Entweder wirst du durch den waghalsigen Streich ein gemachter Mann, oder die Welt hat einen armen Teufel weniger. Der Gedanke an den zu erhoffenden Gewinn gab ihm Mut, und so näherte er sich in tiefer Nacht dem Garten des Berggeistes. Der Garten liegt nahe dem schönsten Punkte des Gebirges und wird von der Aura durchrauscht, die, nach Böhmen stürmend, die Wasser der Elbe vermehrt. Der Weg verlangte einen guten Kletterer, denn Felsblöcke mussten überschritten werden, wenn er die Höhe erreichen wollte. Alles war still, nur verscheuchte Waldvögel rauschten auf.
Bald fand er eine Staude, die der gesuchten köstlichen Springwurzel entsprossen war, und da und dort noch meh-rere. Im Innern darüber froh, dass ihn niemand bei der Arbeit störte, machte er sich ganz still daran, die heiß begehrten Wurzeln auszuheben, die er dann, hübsch geordnet, in den mitgebrachten Korb legte. Der war fast voll. Schon dachte er daran, mit seiner Beute den Rückweg anzutreten, als ein großer Mann, wie ein Gärtner anzusehen, mit einer Hacke über der Schulter auf ihn zuschritt. »Ist das eine Art, in einen fremden Garten einzubrechen und da ohne Erlaubnis zu ernten?«, donnerte er den verzagten Dieb an. »Dich will ich lehren, hier einzubrechen, ich werde dir den Schädel spalten.« Schon holte er aus. Der Schäfer, der keinen Augenblick darüber im Zweifel war, dass er es mit Rübezahl zu tun hatte, wurde von Todesangst erfüllt und fing in seiner Not an zu bitten. »So ein armer Kerl wie ich, der Frau und Kind daheim hat, und ein wenig verdienen will! Seid nicht böse, gnädigster Herr! Ein reicher Graf drunten will wieder ge-sund werden und hat mir ein Stücklein Geld geboten. Gönnt dem Herrn seine Ruh und mir das bisschen Verdienst - um der Kinder willen.«
»Gut«, antwortete Rübezahl, »dann lauf diesmal noch dahin. Ich schenke dir den Kram. Aber du kommst mir nicht wieder. Das sage ich dir.« Dem Schäfer fiel bei diesen Worten ein Zentnerstein vom Herzen. Er sah, wie Rübezahl davonging, sich noch einmal mit drohender Gebärde umdrehte und dann in einem Geklüft verschwand. Rasch fasste er seinen Korb und verließ den unheimlichen Garten, so schnell er konnte. Daheim angekommen überlegte er, wie er aus seinem Un-ternehmen den besten Nutzen ziehen könne. Zunächst gab er dem kranken Grafen eine Wurzel ab, wofür er die versprochene Summe erhielt. Nun war er reich, und es kam ihm nicht mehr in den Sinn, für andere Leute Schafe zu hü-ten. Der Graf wurde bald wieder gesund und konnte abreisen.
Nun hatte der Schäfer eine gute Empfehlung für sein Heilmittel, das er auch anderen reichen Kranken zu hohen Preisen anbot, und ihrer gab es in dem stets gut besuchten Bad Warmbrunn wie auch anderwärts reichlich genug. Es kam viel Geld in seine Hände, und der früher so einfache und bescheidene Mann wurde hochmütig und verschwenderisch. Wenn ihn arme Leute um das wunderbare Heilmittel anflehten, so wies er sie barsch ab, oder er gab ihnen dafür andere Wurzeln, die mit der Springwurzel nichts gemein hatten als das Aussehen. Von Tag zu Tag wurde er habsüchtiger und geldgieriger. Jetzt machte er sich schon Vorwürfe, dass er damals seinen Korb nicht ganz mit dem Heilmittel gefüllt hatte, und immer lauter regte sich in ihm der verhängnisvolle Wunsch, trotz des scharfen Verbotes noch einmal in Rübezahls Garten einzubrechen und sich da besser zu versorgen als das erste Mal. Viele Nächte lang wälzte er sich schlaflos in sei-nem Bett, während in ihm die Habsucht mit der Angst um die Oberherrschaft rang. Vielleicht würde Rübezahl seine Drohung doch nicht wahr machen oder gar ihn nicht bei seinem Tun erwischen. Und wenn er ihn wieder ertappte, würde er ihn vielleicht doch wieder laufen lassen und nur warnen.
Die Geldgier gewann schließlich die Oberhand und trieb ihn dann auch eines Abends richtig in das Gebirge und in den verbotenen Bezirk. Wieder stand er an der alten Stelle und fing an, Springwurzeln auszugraben. Aber nicht lange hatte er gearbeitet, da öffnete sich vor ihm der Boden, und in schwefelgelbem Wetterschein erhob sich vor ihm drohend die riesige Gestalt des Berggeistes. »Habe ich dir nicht verboten, meinen Garten wieder zu betreten?«, donnerte ihn Rübezahl an. »So missbrauchst du deiner Habgier wegen meine Geduld und Güte! Du wirst nie wieder in mein Gehege kommen!« Mit diesen Worten zerriss er den wagehalsigen Menschen und warf die Kleider weit fort in entfernte Täler. Seitdem hütete sich jeder, den Garten Rübezahls zu betreten.
Quelle:
- Der Berggeist des Riesengebirges, Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang