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Die Osterjungfrau

Da wo jetzt die Marktkirche in Osterode steht, hat vor vielen Jahren immer ein kleines Männchen auf einem Steine gesessen und gebetet. Dies war dem läger des Grafen Osterot, wenn er durchs Holz ritt, schon häufig aufgefallen und so erzählte er es einst seinem Herrn.

Der Graf begab sich selbst an den bezeichneten Ort, um sich zu überzeugen, ob es auch kein Irrtum sei; aber richtig, das Männlein saß noch da und betete. Der Graf glaubte darin einen Wink des Himmels zu erkennen, daß er hier ein Gotteshaus bauen solle. Er führte den Plan aus, und so entstand nach und nach die Stadt Osterode. Bald darauf aber starb der Graf. Er war ein sehr reicher, außerordentlich thätiger und bedeutender Mann, der viel für das Land gethan hatte. Deshalb wurde sein früher Tod von allen seinen Untergebenen lebhaft betrauert.

Seine Tochter übergab er vor seinem Ende einem treuen Knappen, damit er die Verwaiste bewache und beschütze. Kurz nach dem Tode des Grafen Osterot nun brach ein Krieg aus, und viele Ritter kamen auch durch Osterode und auf die Burg. Allen gefiel die liebliche Waise gar gut, und einer der Ritter, ein wilder, fremder Mensch, begehrte sie zum Weibe. Das Mädchen aber verabscheute den finsteren Mann und sagte ihm, er möge sich das aus dem Sinn schlagen; denn niemals würde sie seiner in Liebe gedenken.

Das empörte den Krieger, und wilde Drohungen ausstoßend, zog er fort. Nicht lange währte es, da kam er, von vielen Rittern gefolgt, zurück und begehrte abermals die Jungfrau zum Weibe. Als diese ihm aber nochmals eine abschlägige Antwort gab, rief er zornig: »Hüte Dich und handle nicht vorschnell, denn ich bin mächtig und zwinge Dich mit Gewalt!«

Doch furchtlos schickte das Mädchen den lästigen Werber zum zweitenmal fort.

Da kam der Ritter zum drittenmal und mit ihm große Volkshaufen, die alles umher verwüsteten und die Burg belagerten.

Doch die Bewohner der Burg waren darauf vorbereitet, und der alte Knappe, dem der Graf die Tochter übergeben, leitete die Verteidigung mit großer Umsicht. Lange vereitelte er alle Angriffe. Endlich aber konnte die erschöpfte Besatzung den Kampf nicht mehr weiter führen. Triumphierend drang der Ritter mit seinem Gefolge ein.

Jetzt, so glaubte er fest, würde das Burgfräulein ihm willig die Hand reichen, da sie sähe, daß ihr kein weiterer Ausweg blieb. Aber er hatte sich geirrt, denn ebenso entschieden wie früher weigerte sich noch jetzt die hart Bedrängte. Da kannte seine Wut keine Grenzen. »Unglückselige!« schrie er, »wisse denn, daß ich dreimal gegen die Mohren gekämpft und daß ein Schwarzkünstler im Mohrenlande mich den Zauber gelehrt hat, Dich in einen Hund zu verwandeln, der über Deines Vaters Schätze wacht.«

Das alles muß ich mir gefallen lassen,« entgegnete das Edelfräulein, denn Deiner Macht kann ich nicht widerstehen; heiraten werde ich Dich nie!«

Bei diesen Worten ergriff der Ritter die Wehrlose und schleppte sie in den Keller, wo die Schätze des Grafen lagen. Hier verwandelte er sie in einen schwarzen Hund, der gefesselt an schwerer Kette die aufgehäuften Reichtümer bewachen mußte. Aus dieser Verzauberung sollte nur ein Ritter, der keusch und frommen Herzens sei, die Unglückliche erlösen könne. An jedem Ostermorgen durfte sie in ihren wahren Gestalt den Keller auf kurze Zeit verlassen. So ging sie denn alljährlich an diesem Tage den Berg hinunter und wusch sich im Lerbacher Wasser.

Als an einem Ostermorgen in aller Frühe ein armer Leinweber bei der alten Burg vorbei in die Stadt gehen wollte, um seine fertige Arbeit fortzutragen, sah er drunten am Wasser eine liebliche Gestalt. Neugierig trat er näher und bot derselben seinen Gruß, der freundlich erwidert wurde. Als der Mann zu seinem Staunen eine schöne Lilie an der Brust der Jungfrau gewahrte, fragte er: »So früh und schon eine Lilie?«

»Ja,« entgegnete diese, »wenn Ihr auch eine haben wollt, so kommt nur mit mir.«

Gern folgte der Leinweber der weißen Gestalt, die ihm voran den Berg hinauf schritt und vor dem Keller, in den sie gebannt war, stehen blieb. Vor dessen Eingang aber stand ein Strauch der schönsten Lilien, und von diesen brach sie eine, reichte sie dem armen Manne und stieg dann in den Keller zurück. Der Lilienstrauch aber war verschwunden. Der Leinweber ging heim. Unterwegs aber merkte er, daß die Blume schwerer und schwerer wurde. Als er endlich zu Hause angelangt war, da war die Lilie vom schönsten Golde und Silber, und der Jubel, daß es nun ein Ende habe mit der Armut der glücklichen Familie, wollte kein Ende nehmen. Denn die Blume war so wertvoll, daß selbst der König sie nicht kaufen konnte und nur als Geschenk von dem Leinweber annahm. Als Gegengabe erhielt dieser ein großes Landgut, auf dem er glücklich und sorglos mit den Seinen lebte.

Als dann der dreißigjährige Krieg ins Land zog und alles durch Kriegsvolk überschwemmt wurde, da kamen auch viele Soldaten durch Osterode. So geschah es denn, daß am Ostermorgen zu früher Stunde einst ein Reiter bei der Burg vorbeisprengte, gerade zu der Zeit, da die Jungfrau sich am Wasser wusch. Verwundert blickte der Soldat auf die liebliche Erscheinung, stieg vom Pferde und trat dicht an sie heran. Als er ihr guten Morgen bot und dabei eine prächtige Rose an ihrer Brust gewahrte, fragte er erstaunt: »So früh und schon eine Rose?«

Wiederum entgegnete die Jungfrau: »Ja, wenn Ihr auch eine solche haben wollt, so kommt nur mit mir.«

Der Reiter folgte ihr und erblickte vor dem Keller einen prächtigen, glühenden Rosenstrauch. Nachdem die Jungfrau eine der Blumen gebrochen und dem Soldaten dargereicht, wollte sie abermals schnell in den Keller hinunter. Doch noch ehe sie die Thür zu schließen vermochte, war ihr der Reiter gefolgt und stieß sie mit Gewalt wieder auf. Die weiße Gestalt aber war verschwunden und vor ihm lag nur ein schwarzer Hund an eiserner Kette. Furchtlos ergriff der Kriegsmann die Kette und zerriß die selbe mit kräftiger Hand. In demselben Augenblick, da die Teile klirrend zu Boden fielen, stand die Tochter des Grafen Osterot in voller Schönheit und Jugend vor ihrem Erlöser. Der Soldat war ein hoher Offizier aus edlem, alten Geschlechte, war keusch und frommen Herzens; so war es ihm möglich gewesen, die Unglückliche aus dem Banne zu erlösen.

Die Jungfrau wurde die Gemahlin ihres Befreiers und zog mit ihm nach Frankreich, wo seine Heimat war; auch die Schätze des Vaters nahmen die Glücklichen mit sich fort.

Quelle: Im Zauberbann des Harzgebirges, Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann, Flemming, 1890