<<< zurück | Sagen der mittleren Werra | weiter >>>
„Es kommen manchmal gar wunderliche Geschichten in der Welt vor,“ so begann gewöhnlich die Lindemanns Kathrin, wenn sie im Kreise ihrer Bekannten bei guter Laune war, eine alte Sage vom See. „Ihr wißt doch, daß meine Urgroßmutter selig eine gar geschickte Hebamme war und daß sie all' die vornehmen Weiber hatte. Die wurde nun auch einmal in einer gewissen Nacht von einem vornehmen Herrn herausgeklopft, und da der gar zu pressirt that, raffte sie sich hurtig auf und stand auch bald vor ihm. Es war ein landfremder Herr, der ihr aber durchaus nicht sagte, wo es hingehen sollte. Er meinte, eine Kreißende verlange nach ihrer Hülfe, sie möchte ihm nur getrost folgen, es geschehe ihr kein Leid, auf ein gut Stück Geld könne sie dabei rechnen.
Mittlerweile waren sie schon ein gut End vorwärts gekommen, da blieb plötzlich der fremde Herr stehen, zog ein feines Tuch aus seiner Tasche und verband ihr, ehe sie sich's versehen, die Augen. Die Alte dachte: „Hm, das wird immer vornehmer“ und ließ sich auch das gefallen. Der Fremde drehte sie darauf noch ein paarmal rum und num und dann ging's weiter. Sie aber, die nicht von gestern war, hatte es bald weg, daß sie am See hingeführt wurde, und als sie über ein kleines Brückchen hingingen, da wußte ste erst recht wo sie war. Gleich drauf machte der Fremde Halt. Es war an der Stelle, wo sonst die Rathsherrn ihre Fischkästen hatten. „Was nun?“ frug jezt meine Urgroßmutter. Statt der Antwort hockte sie der Herr auf seinen Arm, betheuerte nochmals, daß ihr kein Leid geschehe, und dann ging's mit ihr „treppab“. Die Lieffening (Tiefe) aber wollte gar kein Ende nehmen. Endlich waren sie am Platz, und als meiner Urgroßmutter das Tuch abgenommen war, stand sie in einer prächtigen Stube und vor ihr lag eine bildschöne junge Frau, die ihrer Hülfe bedurfte. Es war die höchste Zeit.
Als Alles glücklich vorüber war, da wurde meine Urgroßmutter reich beschenkt. Der Herr verband ihr abermals die Augen, hob sie auf seinen Arm und so gings die Treppe hinauf. Droben sezte er sie auf die Beine, führte sie noch eine Strecke weit bis an das Fleck, wo er ihr zuerst die Augen verbunden, nahm ihr hier das Tuch wieder ab und geleitete sie noch bis vor ihre Thüre.“
Quellen: