<<< vorherige Sage | Kapitel 1 | nächste Sage >>>
Eine mündliche Überlieferung aus Reutlingen
Die Urschel pflanzte einmal, um erlöst zu werden, eine Buche; denn wäre aus diesem Baum, nachdem er groß geworden war, eine Wiege gemacht worden, so würde das Kind, das man in diese gelegt hätte, sie erlösen können. Allein der Baum wurde gefällt und zu Brennholz verwandt. Sie steckte daher eine zweite Buche. Aus der wurde wirklich nach vielen Jahren eine Wiege gemacht, und in die kam ein Kind aus Pfullingen zu liegen. Als dieses Kind erwachsen war, diente es als Knecht in Pfullingen und kam oft mit Wagen und Pferden auf den Urschelberg. Da sprach dann die Urschel immer mit dem Knecht, wenn er Holz oder Steine von dem Berg holte, und redete ihm zu, dass er nur noch mehr ausladen möge. Sie wolle seinen Wagen schon halten, dass er nicht umfalle. So konnte denn dieser Knecht mit den schwersten Lasten den Urschelberg herabfahren, ohne dass ihm jemals ein Unglück begegnet wäre; denn die Urschel ging stets neben seinem Wagen her und stellte sich, wo es nötig war, mitten ins Rad. Deshalb sperrte der Knecht auch nie, während andere oft drei Räder hemmen mussten.
»Frieder, fahr fort«, rief sie ihm zuweilen zu.
Und er sagte oftmals zu seinen Begleitern: »Seht doch nur, wie schön sie ist!«
Aber niemand konnte sie sehen, als bloß dieser Knecht.
Da offenbarte sie ihm endlich auch, dass er sie erlösen könne, und bat ihn dringend, es zu tun. Das versprach er ihr denn auch. Als aber die Zeit heranrückte, wo die Erlösung vollbracht werden sollte, da fürchtete er sich. Obwohl sie ihm Mut einsprach und ihm mit Bitten keine Ruhe ließ, so konnte er sich doch nicht dazu entschließen, besonders nicht, nachdem er sich mit einem Geistlichen darüber besprochen hatte. Darauf eröffnete ihm die Urschel, er werde doch nur noch ein Jahr leben, auch wenn er sie nicht erlöse. Er hat sie auch wirklich nicht erlöst und ist nach Verlauf eines Jahres gestorben.
Nach einer anderen Erzählung ging der Knecht bereits in die Berghöhle der Urschel hinein, um die zwei Pudel von den beiden Kisten zu verjagen, deren eine mit Gold, die andere mit Silber gefüllt war. Als er aber einen schweren Mühlstein an einem Zwirnsfaden über sich hängen sah, erschauderte er so sehr, dass er starb.
Da jammerte die Urschel und sagte: »Jetzt müsse sie wieder warten, bis aus einer jungen Buche einst eine Wiege werde. Das erste Kind, welches in diese Wiege komme, könne sie alsdann erlösen.«
Ein solcher Baum soll nun wieder auf dem Urschelberg stehen und von der alten Urschel gehegt und gepflegt werden.
Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852