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Die alte Urschel 2

  Eine mündliche Überlieferung von Herrn Pfarrer Meyer in Pfullingen

Ein junger Gesell aus Pfullingen ging einst mit seinen Eltern auf ein Feld am Urschelberg, um Kartoffeln zu holen, schirrte die Pferde ab und ließ sie während der Arbeit weiden. Als er nachher auf dem Berg sie wieder aufsuchte, fand er dort ein neues Pferdekummet. Das nahm er mit und setzte es sich, wie es der Brauch ist, auf beide Schultern, indem er seinen Kopf zwischen durchsteckte. Da sah er mit einem Mal die alte Urschel im grünen Rock und mit roten Strümpfen vor sich stehen. »Ich und noch jemand«, sprach sie, »freuen uns, dass du endlich gekommen bist. Wir warten schon Jahrhunderte lang auf die Erlösung, zu der du uns verhelfen kannst.« Dann erzählte sie ihm ausführlich, mit welcher Sehnsucht und Sorge sie das Keimen und Wachsen des Baumes belauscht und betrieben habe, daraus man seine Wiege gemacht hatte; wie sie Minuten und Tage, Jahre und Jahrhunderte gezählt habe, bis der Baum endlich gehauen und aus seinem Holz eine Wiege gemacht worden war. In dieser Wiege habe sie ihn gepflegt und vor den Nachstellungen ihres bösen Feindes von klein auf geschützt. Nun sei die Zeit gekommen, wo er sich dankbar zeigen und sie erlösen könne, was unter allen Menschen nur ihm allein möglich sei. Sie sagte ihm weiter, dass sie unermessliche Schätze bewache. Diese wolle sie alle ihm geben, und einen noch tausendmal köstlicheren Schatz, wenn er sie erlöse. Sie werde ihn auf einem Weg, den sonst niemand sehen könne, in das Innere des Berges führen, woselbst jetzt das alte herrliche Schloss stehe, das vordem oben auf dem Berg gestanden hatte. Dort werde eine Schlange von furchtbarem Aussehen auf seine Brust losfahren. Diese solle er nur herzhaft in die Arme schließen und fest an sein Herz drücken, so werde er alsbald das schönste Weib von der Welt in seinen Armen haben. Dann sei der alte Fluch gelöst. Das alte Schloss werde aus der Tiefe wieder ans Tageslicht heraufsteigen und er darin wohnen und all die goldenen Schätze mit dem schönen Weib teilen.

Mit solchen Worten und Besprechungen suchte sie den Jüngling zu bewegen. Dem aber wurde es angst und bange, und er betete im Stillen ein Vater unser. Da war die Urschel plötzlich verschwunden. Danach erschien sie ihm noch zu verschiedenen Malen und suchte ihn zu bereden, dass er ihr doch zu Willen sein möchte. Er widerstand aber jedes Mal ihren Bitten, zumal sie ihm nicht gestatten wollte, dass er seine Eltern mitbringe. Diese sollten höchstens bis an den Eingang des Berges mitgehen dürfen.

Eines Tages war der junge Gesell mit anderen Kameraden wieder am Urschelberg. Da erschien auch die alte Urschel wieder und drohte ihm nun, dass er des Todes sein sollte, wenn er noch länger sich weigere, sie zu erlösen. Die anderen aber sahen nichts und hörten nichts von ihr. Da versprach er ihr es denn endlich, fragte vorher aber noch den Geistlichen, der sein Beichtvater war, um Rat, der meinte, dass eine einmal verfluchte Seele durchaus nicht erlöst werden dürfe, und führte dies in der Predigt, die er am nächsten Sonntag hielt, noch weiter aus, und schloss damit, das Ganze sei ein Teufelsspuk, um die arme Seele dieses frommen Jünglings zu verderben. Es gibt noch einige ganz alte Leute, deren Eltern diese Predigt mit angehört haben.

Nach Jahr und Tag kam der junge Gesell einmal wieder mit seinen Eltern auf den Acker am Urschelberg, um Kartoffeln zu holen. Sie hatten wieder ihre Pferde bei sich, von denen eins das gefundene Kummet trug. Da erschien dem Jüngling, ohne dass die Eltern es sahen, die alte Urschel wieder und schalt ihn heftig aus, dass er dem Pfarrer von ihr gesagt habe. Dann wiederholte sie ihr altes Jammern, dass, wenn er sie nicht erlöse, sie noch Jahrhunderte lang leiden müsse.

»So geschieht es dir eben recht!«, gab er ihr zur Antwort. »Wer einmal verflucht ist, ist ewig verflucht.«

Diese Worte hörten seine Eltern und merkten daraus, dass er mit der Urschel rede, von deren Worten sie keinen Laut vernommen hatten. Plötzlich aber sahen sie ihren Sohn tot niederfallen. Die alte Urschel hatte ihn umgebracht. Zugleich war das gefundene Kummet verschwunden.

Von dieser Geschichte sollen die Äcker hinter dem Urschelberg den Namen »Mordios-Äcker« erhalten haben.

Quelle: Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, gesammelt von Dr. Ernst Meier, Stuttgart, Verlag der J. B. Metzler'schen Buchhandlung, 1852