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Seit alter Zeit weiß man, daß im Schloß die weiße Frau umgeht. Landgraf Ernst Ludwig schlief einst neben seiner Gemalin, als diese plötzlich erwachte und die weiße Frau in dem Zimmer erblickte, welche ihr winkte und ihr sagte: „Komm und hebe den Schatz.“ Wie es scheint, hat die Landgräfin gezögert, dieß zu thun, oder sie hat etwas anderes dabei versehen, kurz der Geist verschwand und sie hörte nur noch die Worte: „Jetzt muß ich so lange herumgehn, bis Landgraf Ludwig IX zur Regierung kommt und den Schatz hebt.“
Ein anderesmal hat Ernst Ludwig den Schatz heben wollen, aber da erschien ihm die weiße Frau und sprach: „Du kannst das nicht. Jetzt sind noch goldene Zeiten, aber einst werden schwere Zeiten kommen und großes Unglück, dann wird das Haus Hessen durch den Schatz gerettet werden.“ Unter der Regierung Ludwigs VIII hat sich die weiße Frau oft sehen lassen und gesagt: „Wenn der Prinz (Ludwig IX) an die Regierung kommt, dann wird der Schatz aufgehn, wie der Mond aus den Wolken, aber Zeit und Stunde sind nicht bestimmt.“ Auch hat sie sich oft beklagt, sie sei durch böse Geister von ihrem rechten Ruheplatz vertrieben worden und habe nur in der Schloßkirche Ruhe vor denselben; sie sei der Schutzgeist des Schatzes.
Einmal sagte sie geradezu: „Ludwig IX ist mein Erlöser. Amen.“ Als man sie fragte, ob sie dieselbe sei, wie die weiße Frau im Schloß zu Berlin, sagte sie: „Mit der habe ich nichts zu schaffen.“ Als einer sie eines Abends abfragen wollte, sprach sie: „Du sollst mich nicht anreden, sondern nur den linken Fuß vorsetzen, dann will ich selbst schon reden.“
Außer ihr ließen sich damals häufig auch drei Frauen sehen, die waren so schön, wie Wachsbilder. So erblickte Jemand sie im rothen Saal; sie kamen hinter dem Ofen hervor, gingen durch den Saal und verschwanden, indem sie den ängstlich ihnen Zuschauenden auslachten. Auch in der Kirche sind sie mit der weißen Frau erschienen, welche einen Schlüssel trug. An mehren Orten im Schloß erschien ein weißer Mann, der wie mit hölzernen Schuhabsätzen herumklapperte. Einmal sah man ihn im Kaiserzimmer mit einer goldenen Krone auf dem Haupt unter dem Thronhimmel sitzen.
Besonders oft ließ sich aber ein kleines Männchen sehen, mitunter in Begleitung eines großen geharnischten Mannes. Meistens erschien es im rothen oder weißen Saal, saß an einem Tischchen und hatte ein Buch vor sich liegen, eine Feder in der Hand. Diese reichte es dreimal Jemanden, der es sah, damit er in das Buch schriebe, aber der Mann that es nicht. Demselben Mann ist es nachgelaufen, ihn zum Schreiben zu nöthigen und hat auch gesagt, es sei der Schatzmeister des Schatzes. Damals war es ganz weiß, nur hatte es einen schwarzen Kopf.
Einst führte die weiße Frau einen kühnen Mann, der sie in der Kirche abfragte, unter die Erde in ein dunkles Gewölbe, aus diesem in ein anderes, wo es hell war, wie am Tage. Darin stand ein großer goldener Löwe mit diamantnen Augen. Auf einem goldenen Tisch lag ein mit Gold reichgeschmückter Hut, an dem ein Knopf aus einem großen Brillant gemacht blitzte, und an dem Tisch saß das kleine Männchen und trug ein schwarzes Hütchen auf dem Kopf. Außerdem standen goldene Figuren, Hirsche, Becher, Thiere u. a. umher, auch ein halbmannsgroßes Kruzifix. Der allgemeinen Annahme zufolge liegt der Schatz entweder im Waschhaus, wo man das Holz hinwirft, oder in dem zugemauerten Gewölbe zwischen dem grünen Thor und dem Mönchentreppchen.
Quellen: