**[[buch:tss|Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes]]** | [[sagen:tss1001|weiter >>>]] ====== Vorwort zum 1. Theil ====== Die Sage ist die Mutter der Geschichte, ist die purpurfarbige Morgenröthe, welche dieser Sonne vorangeht. Die Sage ist ein Heiligthum des Volks und ein Gemeingut des Volks, still und treu bewahrt in seinen heimathlichen Fluren und Wäldern und Bergen, nie prangend und prunkend zur Schau gestellt; sie ist ein sinniges Kind, das nie altert, das in unvergånglich - frischer Jugenblüthe die Menschen erfreut Jegliches Land hat seine Sagen, seine mythische Zeit, mehr oder minder entwickelt, gesondert und abgegrenzt, mehr oder minder glanzreich durch den Völkermorgen strahlend, oder noch überhüllt von duftigen Nebelschleiern, doch in jeder Gestalt vom Volk geliebt und getragen und von einer freundlichen Echo immer in den alten einfachen Lauten den spätern Geschlechtern zugerufen und zugeflüstert. Die Sage lebt ihr unvergångliches Leben im Munde des Volks, in Liedern, in Sprüchen und Scherzreden, selbst in gegenseitigen Neckereien benachbarter Stämme und Gauen und Orte, wo mancher Wißpfeil flüchtig berührend an den Saiten der Sagenharfe vorüberrauscht und sie, erklingen macht von den Längst geschehenen Dingen. Eines der sagenreichsten Länder ist das alte Thüringerland, durchklungen und durchsungen von mancher Mähr nach allen Richtungen hin; vornehmlich aber rauschen lieblich und traulich, schaurig und geheimnißvoll die Mährchenstimmen durch und aus dem Thüringerwald, der dunkelgrünen Heimath manchen Liedes, das aus der fernen Zeit herüberklingt. Es zog ein Sånger wohl ab und auf durch das ganze liebe Thüringerland; thalaus und ein, durch die schattigen Wålder, den murmelnden Bächen entlang; er klimmte hinauf zu Felsenkanten, zu Burgtrümmern und starren, einsamen Warten; er weilte im Thalfrieden bei verfallenen Abteien und las von halbverwitterten Leichensteinen längstverklungene Namen. So wandernd und rastend und immer horchend auf den Mund der Sage, und freundlich sprechend mit Schäfern und Hirten, Jägern und Bergleuten, Köhlern und Holzhauern kam ihm manche Mähr, wie von ohngefähr, ward ihm vieles kund aus des Volkes Mund. Auch lauschte der Sänger den Liedern der Mädchen, die sie Abends vor den Thüren sangen, und nahm sich wackre, gern plaudernde Knaben zu Führern, oder auch ergraute Waldleute, die viel zu erzählen wußten, da fand er die Wunderblume, mit der er den Schatz der Sagen an das Licht zu heben bemüht war. Und wenn Herbst und Winter und Vorfrühling rauh stürmten, wenn die singenden Stimmen der Thalbäche verstummt waren und gebunden von Frostfesseln die lebendigen Wellen, die Waldpfade verschneit, unzugänglich die Berghöhen und unwegsam die Wege, da saß der Dichter in traulichstiller Einsamkeit und hatte um und neben sich viele stumme und doch wohlberedte sagenkundige Erzähler, alte Legenden- und Chronikenbücher des Thüringerlandes, alte Lieder, fliegende Blåtter, gerettet aus dem Sturm der Zeit und heilig aufbewahrt; nicht minder manches gute neue Buch und manches schöne neue Lied, die, zum - Wiederhall des alten geworden, Thüringens Vorzeit verherrlichen helfen wollten. Dieser Sänger ist und war nun, mit Deiner Erlaubniß, lieber Leser, kein anderer, als der Hersausgeber des Thüringischen Sagenschatzes, ein Mann, der Thüringen kennt und liebt (zwei Eigenschaften, die zu solchem Vorhaben unerläßlich sind), und der sich wohl ohne Eitelkeit und Selbstschmeichelei sagen darf, daß auch er an manchen Orten Thüringens gekannt und geliebt sei, und daher mit seinen Gaben immer willkommen. Thuringische Sagen durchklangen schon den frühen Morgen seiner Kindheit, seiner Knabenjahre; der Jungling lich ihnen ein offenes Ohr, ein empfängliches Herz, und der Mann sammelte sie, um wieder damit aufblühende Jugend zu erfreuen. Er sammelte und hob jedoch den Sagenschaß nicht für die leichte Unterhaltung einiger flüchtigen Stunden, er hob ihn für das Vaterland und legt ihn zugleich auf den Altarstufen der Geschichte nieder, ein frommgebrachtes Opfer seiner Liebe. Mit der blauen Farbe begabt die Sage selbst jene Wunderblume, durch deren Kraft es dem glücklichen Finder gelingen soll, die versunkenen Schätze zu heben, sie aus verschlossenen Bergeshöhlen herauf zu bringen; blau ist die Farbe der Treue, und treu und einfach bieten sich die in diesem Werk erzählten Sagen dar, in ihrer ungeschmückten Aechtheit, in ihrer oft wörtlichen Ueberlieferung. Die Treue festzuhalten, nicht durch Zuthaten eigner Erfindung und Phantasie den holden Reiz der Einfachheit zu verunstalten, die Kindlichkeit der Sagen nicht zu zerstören, den urkråftigen Krystallborn durch fremdartige Beimischung nicht zu trüben, machte sich der Verfasser zum festen Grundsaß und fürchtet nicht , daß dadurch eine große Anzahl seiner Leser abgeschreckt werde. Noch sei ein Wort vergönnt über die Eintheilung in Sagenkreise. In andern und größern Ländern ziehen sich die ältesten Sagen meist wie milde Planeten um das leuchtende Sonnenbild eines Helden: Sagenkreis der Nicbelungen, Karl des Großen, des Königs Artus und der Tafelrunde u. a., hier aber, wo nicht bloß Heldensage beachtet werden kann, ja wo sie sogar in den Hintergrund tritt, und wo nur einzelne Helden und Heiligengestalten kråftig und sagengefeiert hervortreten, wie Bonifacius, mehrere Landgrafen, die heilige Elisabeth, möchte die Eintheilung nach Gebieten, um doch nöthige Ruhepunkte und Uebersichten zu gewinnen, weder zwecklos, noch geradezu verwerflich sein. Es liegt auf der Hand, daß diese Kreise nicht geographisch bezeichnet werden und feste Grenzen erhalten können, oft müssen sie wie Kettenglieder sich berühren und in einander schlingen; eben so wenig wird man verlangen, daß die Sagen chronologisch geordnet erscheinen, da ja ein großer Theil derselben sich auf keine Weise geschichtlich geltend macht. Man wird dem Herausgeber, dieß hofft und bittet er, in der Anordnung der Sagenkreise eine scheinbare Willkühr zu Gute halten, und die, welche das Land und seine Sagen kennen, werden finden, daß nicht einmal Willkühr war, was als solche anfänglich erscheinen möchte. //Quelle: [[autor:bechstein|Ludwig Bechstein]] - [[buch:tss|Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes]], Meiningen und Hildburghausen, 1857, Verlag der Kesselringschen Hofbuchhandlung// ---- {{tag>vorwort bechstein tss}}