[[sagen:sagenbuchlausitzII-124|<<< vorherige Sage]] | **[[capitel:hauptortssagen|Dritte Abtheilung: Ortssagen]]** | [[sagen:sagenbuchlausitzII-126|nächste Sage >>>]] ====== Die große Linde auf dem Nikolai-Kirchhofe in Görlitz ====== Mündlich. Samml. von Schön No. 65. msc. === I. === Die [[geo:görlitz|Görlitzer]] Schöppen übten strenge Gerechtigkeit und henkten manchen bei der Wegelagerung betroffenen Stegreifritter an den lichten Galgen. Einst hatten sie einen armen Knappen gefangen und zum Tode verurtheilt; denn wenn er auch in der Güte befragt seine Unschuld behauptete, so preßten ihm doch die Daumschrauben und die Streckbank das Geständniß eines Verbrechens aus, das er nicht begangen hatte. So wurde er denn an einem schönen Morgen hinausgeführt, um gehenkt zu werden. Als er nun am Nikolaikirchhofe vorbeikam, wo seine ehrbaren Aeltern begraben lagen, ward es ihm sehr wehe im Herzen, daß er eines so unehrlichen Todes sterben sollte, obwohl er unschuldig war, und gedachte ein Zeichen zu hinterlassen, woran man wenigstens nach seinem Tode seine Unschuld erkennen möchte, bat also den Henker, ihm zu erlauben, daß er am Grabe seiner Aeltern noch ein Ave Maria und Pater Noster beten dürfe. Das weigerte der Henker dem armen Knappen nicht und ließ ihn von seinen Knechten zu dem Grabe geleiten, auf welchem ein junges Lindenbäumchen stand. Nachdem nun der Verurtheilte sein Gebet verrichtet, riß er das Lindenbäumchen aus und pflanzte es umgekehrt wieder ein, so daß die Wurzeln als Zweige nach oben gerichtet, die Zweige aber als Wurzeln mit Erde bedeckt wurden, und sagte dabei: So gewiß wie dies Bäumchen aus den Zweigen Wurzeln und aus den Wurzeln Zweige treiben und empor wachsen wird zu einem mächtigen Baume, so gewiß habt ihr mich unschuldig zum Tode verdammt. Und siehe, das Bäumchen wuchs und ward ein mächtiger Baum, der seine schattenden Zweige weithin über den Friedhof verbreitet, bis auf den heutigen Tag. === II. === Andere erzählen sich von dieser Linde eine andere Geschichte. Der wackere Pfarrer Martin Moller, welcher zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts in Görlitz das Wort Gottes mit großem Eifer predigte, obwohl er zuletzt erblindet war (wie man an seinem Bildnisse in der Sakristei der Peterskirche sehen kann), machte es nicht allen seinen Kirchkindern recht; denn er war ein gar gelehrter und mildgesinnter, dem damaligen Bekenntnißeifer seiner lutherischen Kollegen abgeneigter Mann, so daß er in den Verdacht des heimlichen Kalvinismus kam. Er mußte wegen seiner Lehre viel Ungemach leiden, machte es aber wie David, als er in Nöthen war, das heißt, er dichtete zu seinem eigenen Troste viele schöne Lieder. Eins derselben befindet sich auch im alten Görlitzer Gesangbuche (unter No. 220.) und in vielen andern Liedersammlungen und fängt sich an: ach Gott, wie manches Herzeleid\\ Begegnet mir in dieser Zeit!\\ Der schmale Weg ist trübsalvoll,\\ Den ich zum Himmel wandern soll.\\ Als es nun mit dem vielangefochtenen blinden Pfarrer zu Ende ging, da sagte er zu den Seinen: „Wenn ich werde gestorben sein, so pflanzt auf mein Grab als Denkmal eine junge Linde mit den Zweigen in die Erde. So gewiß diese Linde wachsen wird, so gewiß habe ich auch Gottes Wort rein und lauter gelehrt und gepredigt.“ Dieser sein letzter Wille geschah und was er gesagt hatte traf ein, so daß Alles sich hoch verwunderte und viele gläubig wurden. //Quelle: [[autor:karlhaupt|Karl Haupt]], [[buch:sagenbuch_der_lausitz|Sagenbuch der Lausitz]], Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann,1862// ---- {{tag>sagen karlhaupt sagenbuchderlausitz2 oberlausitz görlitz ortssagen gericht henker gebet predigt friedhof linde wurzel pfarrer blind grab hinrichtung unschuld v2}}